Hüßner, S. (2007). User Generated Content: In den Fängen des „Mitmach-Web“. w.e.b.Square, 07/2007. URL: http://websquare.imb-uni-augsburg.de/2007-07/5.
Über 94 Millionen Weblogs zählte die Suchmaschine Technorati im August 2007. Ohne die Weisheit der Vielen gäbe es im Internet längst nicht die Angebotsvielfalt, für die das Medium so geschätzt wird. Ob die Blogosphäre und der klassische Journalismus konkurrieren oder sich ergänzen, beschäftigt Kritiker und Experten.
Das Web 2.0 ist geprägt von Partizipation, Freiheit und der Zusammenarbeit aktiver Nutzer. Unzählige Online-Dienste ermöglichen die volle Entfaltung kollektiver Intelligenz. Wird das dem professionellen journalistischen Handwerk, der Arbeit von Presse und Rundfunk, tatsächlich einen Abbruch tun? Laut Robin Sloan und Matt Thompson kommt es in nicht allzu langer Zeit mit großer Sicherheit zum Supergau. Mit ihrem Film „Google Epic 2015“ entwerfen sie ein Zukunftsszenario über die Macht des Internet und das Scheitern des vierten Standes, der Presse. Die Nachrichtenkriege 2010 werden ohne echte Nachrichtenorganisationen geführt werden, Microsoft und Googlezon, ein Zusammenschluss der Internet-Giganten Google und Amazon, kämpfen um den Titel der umfassenderen Nachrichteninhalte. 2011 schlägt sich das oberste Gericht auf die Seite Googlezons und widerspricht der New York Times, die gegen Urheberrechtsverletzung durch die personalisierte Zusammenstellung von Nachrichten klagt. Im Jahr 2014 geht die Times offline und ist gedruckt nur noch für eine Elite von Lesern erhältlich, worauf 2015 Google Epic anläuft, ein Online-Dienst, bei dem jeder, der dazu beiträgt, proportional zu seinem gelieferten Content bezahlt wird.
Abb. 1: Googlezon (http://image.blog.livedoor.jp/unknownmelodies/imgs/0/8/08c723ef.jpg, Stand: 26.09.2007)
Derartige Horrorvisionen verzeichnet auch Christoph Neuberger von der Universität Münster in seiner „Forschungssynopse zum Wandel der Öffentlichkeit im Internet“ (2007). Neben der Tatsache, dass Weblogs tatsächlich den Niedergang des professionellen Journalismus herbeiführen, macht er in der öffentlichen Diskussion zum Thema aber auch andere Meinungen aus. So zeigt sich in der Zusammenfassung der Ergebnisse verschiedener empirischer Studien, dass Weblogs die klassische Medienberichterstattung eher ergänzen und erweitern (Vorstellung von 22 Einzel- und kontinuierlichen Studien zu Angebot und Nutzung von Weblogs in Deutschland bzw. im deutschsprachigen Raum, 10 Befragungen zu Angebot und Nutzung von Weblogs in den USA oder unter englischsprachigen Personen, technisch generierten Anbieter- und Nutzungsdaten zu Weblogs sowie eigenen Erhebungen der Autoren). Das Phänomen des Bloggens ist schließlich mitunter deshalb so beliebt, weil die Kapazität von Presse und Rundfunk aufgrund mangelnder gedruckter Seiten oder Sendezeiten schnell erschöpft ist. Nicht jeder kann zu Wort kommen, angesichts der Fülle des Angebots musste seit jeher eine Auswahl getroffen werden. Im Internet ist dies nun nicht mehr der Fall. Unbegrenzter Speicherplatz steht zur Verfügung, um genutzt zu werden. Noch dazu machen es immer schnellere Datenübertragungsgeschwindigkeiten und die einfache Handhabung von Social Software und Content Management Systemen möglich, alles mit allen zu teilen. Seien es private Fotos oder Videoaufnahmen, die persönliche Playlist an Lieblingsmusik oder das eigene Tagebuch, das im Blog veröffentlicht wird - Web 2.0 macht’s möglich.
Die ARD/ZDF-Online-Studie 2007 offenbart, dass die so genannte „Weisheit der Vielen“ wohl eher eine „Weisheit der Wenigen für Viele“ ist. Im Internet gibt es nämlich mehr passive Rezipienten der zahlreichen Angebote als aktive User. Der überragende Erfolg von Online-Diensten wie der freien Enzyklopädie Wikipedia ist in erster Linie auf die Attraktivität der Inhalte und den Mehrwert für die Nutzer zurückzuführen und nicht auf die Möglichkeit, sich aktiv zu beteiligen. In Zahlen bedeutet das, dass im Jahr 2007 76 Prozent der in Deutschland befragten Onliner ab 14 Jahren lediglich Informationen abgerufen haben ohne selbst Beiträge zu verfassen. 94 Prozent der User greifen über Wikipedia auf das Wissen anderer zu, stellen aber selbst keine Informationen zur Verfügung und nur sieben Prozent der Besucher von Videoportalen wie You Tube sind auch bereit, selbst Content beizusteuern. Christoph Neuberger spricht in seiner Zusammenfassung unterschiedlicher Forschungsergebnisse in Sachen Weblogs vom „Entwicklungsland Deutschland“. Nur fünf Prozent der Deutschen bloggen selbst, die European Interactive Advertising Association fand 2006 heraus, dass im Monat September nur acht von durchschnittlich 15 Prozent der Internetnutzer mindestens monatlich in Weblogs aktiv waren. Wer jedoch ein Weblog betreibt, der tut das an erster Stelle aus selbstbezogenen Motiven, wie dem Spaß an der Sache oder dem Schreiben und der eigenen Selbstdarstellung. Daran anschließend werden das Knüpfen und Aufrechterhalten von Kontakten und die Wissensvermittlung als Gründe genannt.
Abb. 2: Das Netz 2.0 (http://nonfiction.ig-gestaltung.de/wp-content/web20map_de.png, Stand: 26.09.2007)
Aufgrund der Tatsache, dass Weblogs oft Expertenwissen oder Augenzeugenberichte beinhalten, werden Blogger immer häufiger zu Informanten und geeigneten Recherchequellen klassischer Journalisten. Laut einer Befragung von Nachrichtenredaktionsleitern aus dem Jahr 2006 durch Neuberger et al. nutzen vor allem rechercheschwache Redaktionen die Online-Dienste intensiv, um Hintergrundwissen zu sammeln.
User Generated Content wird so schnell zu “grassroot journalism“. Der partizipative oder Bürger-Journalismus setzt auf die neuen Publikationsmöglichkeiten des Internet und bezieht die Leser in die Berichterstattung mit ein. Sie tragen durch ihren Input zur Themenwahl bei; hauptberufliche Journalisten kümmern sich darum, dass Fakten korrekt wiedergegeben und Artikel professionell geschrieben werden. Dabei ist diese Form des „Mitmach-Journalismus“ klar zu unterscheiden von den so genannten Leserreportern, die bisher durch mittels Handykamera gemachte Aufnahmen minderer Qualität von Prominenten oder besonderen Großereignissen eher negativ aufgefallen sind.
Ob Weblogs sich als zuverlässige Quellen eignen, ist in erster Linie von der qualitativen Beschaffenheit der behandelten Informationen abhängig. In der Regel gibt es keine Redaktion, die vor der Veröffentlichung eine entsprechende Prüfung durchführt. Allerdings erheben die meisten Blogger auch keinen Anspruch auf Gültigkeit ihrer Publikationen. Das Veröffentlichte wird als vorläufig angesehen und soll die restliche Community zum Weiterdenken, Diskutieren oder Korrigieren anregen. Nicht umsonst bietet zum Beispiel Wikipedia die Möglichkeit, eingestellte Beiträge immer wieder zu überarbeiten und zu ergänzen. Blogger und Journalisten stimmen laut einer Befragung durch Neuberger von 2003 darin überein, dass Weblog-Betreiber meinungsfreudig, subjektiv, unterhaltsam und aktuell berichten, wohingegen dem professionellen Journalismus eher Neutralität, Richtigkeit und Relevanz zugeschrieben werden. In der Regel hängen sich die Beiträge der Blogger an der aktuellen Berichterstattung der Massenmedien auf und behandeln diese mit einer größeren Tiefe oder beleuchten sie von einem anderen Standpunkt. Spezielle Watchblogs (Inhalt sind nicht persönliche Erlebnisberichte, sondern die kritische Beobachtung und Kommentierung bestimmter Themen, Medien, Unternehmen, Organisationen oder Politiker) wie der BILD-Blog machen es sich zur Aufgabe die Berichterstattung eines Mediums gezielt zu begleiten, zu überwachen und gegebenenfalls zu kritisieren.
Die Blogosphäre und der Journalismus existieren in einem Miteinander, in dem sie sich bisher ergänzen und von einem gegenseitigen Geben und Nehmen profitieren. Wie lange das der Fall sein wird und ob sich Profession und Partizipation irgendwann um Kopf und Kragen schreiben, kann bislang wie in „Google Epic 2015“ nur spekuliert werden.