Wagensommer, V. (2007). Statistik – Mittel der Mündigen oder trickreiche Täuschung? w.e.b.Square, 08/2007. URL: http://websquare.imb-uni-augsburg.de/2007-08/5.
Schon wenn wir morgens die Zeitung aufschlagen, begegnen wir Statistiken. Wir machen im Alltag ständig davon Gebrauch. Doch kann man Statistiken Glauben schenken, ohne sie vorher zu überprüfen? Sind sie für den Laien, der mögliche Absichten des Verfassers nicht kennt, undurchschaubar? Oder sind sie ein hilfreiches Mittel zur Aufklärung von Sachverhalten? Statistiken sind - soviel ist sicher - mit Skepsis zu genießen.
Eine merkwürdige Statistik fand ich kürzlich auf der Homepage einer Kinderarztpraxis. Besorgniserregend ähnlich sind die beiden Kurven, die die Abnahme brütender Storchenpaare und den Geburtenrückgang in Deutschland zeigen. So unglaublich es scheint: Der Eindruck, dass ein direkter Zusammenhang zwischen diesen beiden Größen besteht, ist nicht zu vermeiden. Ich schaue mir die Statistik genauer an. Der erschreckende erste Eindruck wird etwas gemildert: Mir fällt auf, dass die beiden senkrechten Skalen nicht die Null zur Basis haben. Störche und Neugeborene sind nicht dabei ganz zu verschwinden, wie es die Statistik nahe legt. Aber halt! Am linken und rechten Bildrand sind zwei unterschiedliche Skalen? Die beiden Kurven scheinen wenig miteinander zu tun zu haben. Außerdem wird nicht darauf hingewiesen, dass es für beide Rückgänge jeweils einen eigenen Grund gibt: Die breite Verfügbarkeit der Antibabypille führte zum Geburtenrückgang, und die Trockenlegung zahlreicher Sümpfe bedrohte die Störche. Es gibt „keinen ursächlichen, sondern nur einen zeitlichen Zusammenhang zu den Störchen", stellt der auf die Statistik folgende Text klar. Ein harmloser Scherz wie hier kann bei glaubwürdigeren Statistiken zur mutwilligen Täuschung dienen.
Im Laufe der Zeit hat sich eine regelrechte „Kunst", mit Statistik zu lügen, entwickelt. Die Spanne der Betrugsmöglichkeiten reicht bis hin zu bewusst eingesetzten falschen Zahlen. Doch auch korrekte Werte können auf missverständliche Art und Weise kombiniert werden. Das „Zusammenwerfen von Äpfeln und Birnen", wie in der eingangs erwähnten Kinderarzt-Statistik, führt zu Trugschlüssen. Hier fehlt darüber hinaus ein Hinweis auf die Ursachen der Abnahme von Geburten und Störchen. Durch das Weglassen von Informationen in der Statistik kann eine irreführende Wirkung erzielt werden. Aaron Levenstein, Autor und Professor für Betriebswirtschaftslehre, bringt diese Methode mit einem berühmten Vergleich auf den Punkt: "Die Statistik ist wie ein Bikini: Was sie enthüllt, ist vielversprechend, was sie verbirgt, ist wesentlich!". Eines darf man jedoch nicht vergessen: Häufig handelt es sich nicht um die schlechte Absicht zu täuschen, sondern um Unkenntnis. Absichtlich und unabsichtlich gefälschte Statistiken rufen keine optischen, sondern kognitive Täuschungen hervor. Der, der die Statistik fälscht, kann sie so verändern, dass sie die Gedanken des Betrachters in eine bestimmte Richtung lenkt. So entwickelt sich die Meinung zum Thema im Sinne des Manipulierenden.
Ob bei Wahlen oder bei Pharmakonzernen, die die Wirksamkeit von Medikamenten zu beweisen versuchen: Oft werden Statistiken manipuliert, um bestimmte Interessen durchzusetzen. Vor der Wissenschaft macht diese Methode nicht halt. Die Manipulation von Forschungsergebnissen verspricht dem Wissenschafter eine hohe Medienpräsenz. Besonders in der Boulevardpresse werden neue, überraschende Erkenntnisse groß aufgemacht. Daraus kann Anerkennung in Fachkreisen und wirtschaftlicher Erfolg resultieren. Nicht nur persönliche Interessen werden verfolgt: Das Deutsche Ärzteblatt rechtfertigte eine Übertreibung in einer AIDS-Statistik damit, nur helfen zu wollen. Die AIDS-Forschung hoffe, so leichter an Forschungsgelder zu kommen (Krämer, 1995). Eine „Lüge zum guten Zweck" ist aber nicht weniger eine Lüge und raubt der Berichterstattung ihre Glaubwürdigkeit.
Was kann man tun, um sich nicht täuschen zu lassen? Folgende Fragen sollte man stellen (Klein, 2007): Was ist die Absicht des Herausgebers der Statistik? Fehlen relevante Angaben? Wurden sie versehentlich oder zu einem bestimmten Zweck unterschlagen? Stammen die Zahlen aus einem methodisch kontrollierten Vorgehen? Und zu guter Letzt: Sind die vorgegebenen Schlussfolgerungen zulässig? „Zahlen und Statistiken helfen, Sachverhalte auf den Prüfstand zu stellen. Zahlen und Statistiken sind allerdings ihrerseits Prüfungen, Skepsis und Zweifeln ausgesetzt.", fasst Werner Barke (2004), Referent des Statistischen Landesamts Baden-Württemberg, zusammen. Um keine unkritischen, voreiligen Schlüsse zu ziehen, müssen wir die jeweilige Statistik in einen Gesamtzusammenhang einordnen. Diese Vorsicht sollte uns aber nicht dazu bewegen, auf den Nutzen der Statistik zu verzichten. Elisabeth Noelle-Neumann betont die positive Seite der Medaille (Küchenhoff 2006, S. 14): „Statistik ist für mich das Informationsmittel der Mündigen. Wer mit ihr umgehen kann, kann weniger leicht manipuliert werden.". Statistiken lassen sich eben, wie jedes andere Werkzeug, sowohl ge- als auch missbrauchen. Und glücklicherweise haben auch statistische Lügen kurze Beine!