Schemmerling, M. & Specht, T. (2009). Rollentausch mit dem Dozenten – oder wie man Seminare aus einer anderen Perspektive betrachten kann, ohne auf den Tisch zu steigen. w.e.b.Square, 02/2009. URL: http://websquare.imb-uni-augsburg.de/2009-03/2
20 Augenpaare blicken mich, mehr oder weniger, gespannt an, und mir ist flau im Magen. Noch einmal überprüfe ich, ob der Computer funktioniert und alle Unterlagen bereitliegen. Dann geht es los. Heute bin ich selbst nicht einfach eine Seminarteilnehmerin, heute bin ich die Dozentin. Heute liegt es an mir, wie viel die Studierenden aus der Seminarsitzung mitnehmen. Das klingt zunächst einmal wie eine klassische Referatsituation – ist es aber nicht. Kein Dozent wird mich inhaltlich ergänzen oder korrigieren, kein Dozent wird eine kleine Übung einstreuen oder sich in anderer Form beteiligen. Keiner wird heute das Seminar halten – außer mir. Lernen durch Lehren heißt das didaktische Konzept, das hinter dem Ganzen steht. Und ich habe die Gelegenheit, es genau jetzt auszuprobieren.
Die Methode „Lernen durch Lehren“ (LdL) wurde im deutschen Sprachraum erstmals 1975 von Rudolf Krüger beschrieben und wissenschaftlich gefestigt, was aber zunächst keinerlei Auswirkungen auf die Schulpraxis hatte. Erst in den 1980er Jahren entwickelte Jean-Pol Martin (2001) das heutige LdL für den Französischunterricht an Schulen. Er übertrug dabei die Lehrfunktion auf seine Schüler1, um deren Aktivität im Unterricht und den Sprechanteil jedes einzelnen zu steigern. Nach einiger Zeit verbesserten sich nicht nur die fachspezifischen Kompetenzen seiner Schüler, sondern auch deren Motivation für die Unterrichtsteilhabe, ihr Selbstbewusstsein, ihre Teamfähigkeit sowie ihre Problemlösekompetenz (ebd.). Martin verfeinerte die Methode weiter, welche sich heute auch auf den universitären Kontext übertragen lässt.
Über allem steht der Slogan „Linearität a posteriori“ (Grzega, 2003, S. 9). Der Studierende erhält ein Thema, welches er den Seminarteilnehmern vermitteln soll. Diese ungeordnete, komplexe Aufgabe muss im ersten Schritt erarbeitet und erfasst werden. Hierzu gehört die Informationsbeschaffung und -auswahl. Die vielschichtigen Inhalte müssen strukturiert, also linear gemacht werden, wodurch sich kognitive Landkarten entwickeln und ausweiten können (Quelle zu kognitiven Landkarten). Nachdem aus den Informationen Wissen generiert wurde, muss sich der studentische Dozent überlegen, mit welchen didaktischen Methoden sich die Inhalte am besten vermitteln lassen. Die Seminarsitzung muss vorbereitet und letztendlich gehalten werden.
Anders als bei einem Referat werden die Lerninhalte nicht präsentiert, sondern Mitschülern oder Kommilitonen vermittelt. Das Ziel ist es also nicht, eine möglichst kompetente und bestenfalls interessante Präsentation über ein zuvor festgelegtes Thema zu halten. Es geht nicht darum, Informationen nur darzubieten, sondern darum diese zu lehren. Der studentische Dozent trägt somit nicht nur die Verantwortung für den Informationswert einer Sitzung oder deren Kurzweiligkeit, sondern primär für den Lernerfolg der Seminarteilnehmer. Der Lehrende tritt aus der Rolle des Dozenten heraus, nimmt sich während des Seminars gänzlich zurück, überlässt dem studentischen Dozenten das Feld und fungiert insofern ausschließlich als vorbereitender, unterstützender und begleitender Moderator, besser noch als Supervisor.
Schüler befinden sich in einer anderen Entwicklungsstufe als Studierende, doch dürften sich die individuellen positiven Aspekte von LdL ähneln. Martin (1998, 2001) führt hier Kreativität, Selbstständigkeit, Selbstbewusstsein sowie diverse überfachliche Kompetenzen an. Des Weiteren kommt es bestenfalls zum Flow-Erleben bei der Vorbereitung und der Durchführung des Seminars, da das natürliche Bestreben des Menschen, immer neue Situationen bewältigen und kontrollieren zu können, befriedigt wird. Letztlich bringt Martin (2002) noch die sogenannte „Weltverbesserungskompetenz“ an. Hiermit ist die selbstbezogene Erkenntnis gemeint, dass es zur Empfindung des eigenen Glücks der Zufriedenheit anderer bedarf. Wurde eine Seminarstunde erfolgreich gehalten, haben die Seminarteilnehmer die Inhalte durchdrungen, waren motiviert und neugierig, ist der studentische Dozent zufrieden und glücklich, da er alle seine Ziele erreicht hat – vielleicht sogar besser als mancher Dozent.
Durch LdL wird Fachwissen vermittelt, darüber hinaus überfachliche Kompetenzen wie komplexes Problemlösen, exploratives Denken, Projektkompetenz etc. gefördert. Der Studierende ist zudem durch die Vorbereitung der Seminarstunde Spezialist auf diesem Gebiet und somit zur individuellen wissenschaftlichen Vertiefung von Teilaspekten eines Fachbereichs animiert. Auch muss der Studierende bei LdL lernen, sich Informationen zu beschaffen, aus diesen Wissen zu generieren und zu vernetzen sowie das erworbene Wissen letztendlich methodengerecht weiterzugeben. Die so erworbenen Fähigkeiten sind dabei auch über die Grenzen der Universität hinaus von Bedeutung: Es werden heute Generalisten benötigt, denen es basierend auf ihrem Wissen und ihren Kompetenzen möglich ist, sich binnen kurzer Zeit in Teilgebiete bzw. spezifische Probleme einzuarbeiten und diese zu lösen. Mit LdL wird diese Fähigkeit des „temporären Expertenstatus“ gefördert und gelehrt (Grzega, 2005).
Jetzt stehe ich hier, fünf Minuten vor Seminarbeginn, und verfluche mich selber. Warum tue ich mir das an? Seit ich mein Studium in Medien und Kommunikation vor drei Jahren begonnen habe, halte ich ein Referat nach dem anderen und bereite Präsentationen vor – mal in Gruppen, mal alleine. Alleine eher selten, denn bei uns wird Teamwork groß geschrieben. Diesmal stehe ich alleine da. Vor einem Seminar, das ich bisher noch nie gesehen habe. Ich, die Masterstudentin, stehe vor 20 Bachelorstudierenden. Ich bin heute die Expertin. Es fühlt sich anders an als sonst. Diesmal habe ich mir nicht möglichst effizient zehn geeignete Quellen zusammengesucht, diese auf zwanzig Minuten Redezeit komprimiert, mit einem Aufmerksamkeit-generierenden didaktischem „Schmankerl“ versehen und auf farblich abgestimmte Powerpoint-Folien gepackt. Diesmal habe ich mich wirklich eingearbeitet, denn die Verantwortung liegt heute bei mir.
Meine Aufgabe war folgende: 90 Minuten Seminar, Thema Experten-Laien-Kommunikation, Schwerpunkt Analogien. Frisch sollte es werden, lehrreich, kurzweilig und ganz nach meinem Belieben. Das habe ich getan. Ich habe mir Aufsätze besorgt, habe gelesen, gesammelt, zusammengefasst, reduziert, Schwerpunkte gesetzt, Inhalte gegliedert und vereinfacht. Je mehr ich mich in die Thematik eingearbeitet habe, desto komplexer wurde sie, dann wieder einfacher. Ich bin auf immer neue Informations-Knäule gestoßen und habe sie entwirrt, nebeneinander gelegt und wieder verstrickt.
Das Thema durchdrungen stand ich vor dem nächsten Problem. Wie vermittle ich das nun? Eine adäquate Methodenwahl ist das A und O. Ziel ist es, dass jeder Seminarteilnehmer etwas mit Experten-Laien-Kommunikation anfangen kann, ein Grundverständnis davon bekommt und mit nach Hause und in das universitäre Leben nimmt. Meine Devise war daher „Selbermachen“. Nun stehe ich hier, bepackt mit Gruppen- und Einzelarbeiten, Textbeispielen und Rollenspielen, bin auf eventuell auftretende Fragen vorbereitet und fühle die Verantwortung sprichwörtlich auf meinen Schultern lasten. Mein Zeitmanagement dürfte stimmen, allerdings referiere ich nicht, habe keine Karteikarten oder sonstige Spicker. Diesmal lehre ich, werde Fragen beantworten und versuchen, möglichst flexibel auf die Bedürfnisse der Seminarteilnehmer einzugehen. Warum tue ich mir das an, wo doch scheinbar so viel dagegen spricht?
LdL wird wenig praktiziert, was unter anderem an folgenden Kritikpunkten (nach Grzega, 2003) liegen dürfte.
1. LdL ist zeitaufwändig, was auf Kosten des behandelten Stoffs geht.
Der Erfahrungswert zeigt, dass in Seminaren, die ausschließlich von Studierenden bestritten werden, quantitativ weniger Inhalte behandelt werden als beispielsweise in Vorlesungen. Die Frage ist hierbei jedoch, ob weniger behandelte Sachverhalte gleichzeitig bedeuten, dass qualitativ weniger gelernt wird.
2. LdL überfordert die Studierenden.
LdL stellt hohe Anforderungen an die Studierenden und überfordert sie wahrscheinlich zeitweise. Fraglich ist allerdings, ob diese Überforderung wirklich hinderlich für die Motivation und den Lernprozess ist oder Studierende vielleicht oftmals unterschätzt werden. Sind nicht eigentlich Langweile und Frustration Quellen von Oberflächlichkeit?
3. LdL ist oberflächlich und unwissenschaftlich.
Bisweilen schaffen es Studierende nicht den Grad an Tiefgang wie ein Professor oder Dozent zu erreichen. An dieser Stelle sollte sich ein Lehrender allerdings überlegen, ob die Studierenden den jeweiligen Sachverhalt mit Hilfe eines tiefgründigen monologisierenden Experten tiefer durchdringen können als durch LdL.
4. LdL bedingt fehlerhafte Seminarstunden.
Ob Seminarstunden überhaupt perfekt sein können, sei einmal dahin gestellt. Richtig ist jedoch, dass die Chance auf Fehler bei Lernenden höher ist als bei Lehrenden. Doch dies steigert die Aufmerksamkeit der kritischen Zuhörerschaft und bietet überdies Möglichkeiten zur Reflexion und Diskussion!
5. LdL bedingt mangelhaftes Zeitmanagement.
Lernende schaffen es generell nur bedingt zeitliche Vorgaben einzuhalten. Durch die neue Lehrsituation entsteht im Gegensatz zu „einstudierten“ Referaten oftmals zeitlicher Verzug in der Stundengestaltung, was auf Kosten der zu behandelnden Inhalte geht.
6. LdL ist zu arbeitsintensiv.
LdL ist mit einem hohen kognitiven und zeitlichen Aufwand verbunden, was sich nicht negativ auf die Lernenden auswirken sollte. Der Mehrwert ist hoch, doch der Aufwand unbestritten auch.
7. LdL bedingt unstrukturierte Seminarstunden.
Am Ende einer jeden Lerneinheit muss strukturiertes Wissen stehen, dessen müssen sich Lernende und Lehrende bewusst sein. Diesen Sachverhalt dürfen sie auch bei LdL nicht aus den Augen verlieren.
Trotz vorhandener Bedenken gegen LdL und den Mehraufwand, den diese Methode für mich selbst mitbringt, wollte ich diese Lern-Lehr-Methode einmal ausprobieren. Ausschließlich klassische Referate zu halten wird nach einiger Zeit zur Routine, daher reizte es mich einmal eine Seminarstunde aus der Perspektive einer Dozentin zu gestalten. Auch wenn ich das kurz vor Beginn dieser Sitzung doch etwas anders sehe. Jetzt ist es aber zu spät und es gibt kein Zurück mehr – ich beginne.
Während ich zu Beginn einen kurzen thematischen Input gebe, hören mir die Studierenden zu. Erste skeptische Gesichter blicken mich an und ich werde unsicher. Verstehen sie überhaupt, was ich erkläre? Auf meine Nachfrage nicken alle zustimmend und ich bin wieder etwas entspannter. Dann kommt schon die erste praktische Aufgabe. Nun sind die Seminarteilnehmer gefragt. Jetzt merke ich, wie schwierig es ist, als Dozent Studierende zu motivieren und zu aktivieren. Kein einfacher Job, ist man doch an der Uni in der Regel passives Zuhören und Referate halten gewöhnt. In diesem Seminar läuft dies allerdings anders, hier sollen die Studierenden selbst aktiv werden und den thematischen Input umgehend praktisch anwenden. Das sind sie aber offensichtlich nicht gewohnt. Mit jeder neuen Übung und Präsentation selbiger wird es jedoch einfacher sie zur aktiven Teilnahme zu bewegen. Und so vergehen die 90 Minuten - nicht gefüllt von einem langen Monolog meinerseits, sondern mit einer Vielzahl praktischer Übungen und Beispielen. Auch mein Zeitmanagement stimmt, obwohl mir diesbezüglich die Planung besonders schwer gefallen ist. Wenn man zum ersten Mal eine komplette Sitzung mit praktischen Übungen gestaltet, ist es schwer abzuschätzen, wie viel Zeit die einzelnen Stundenbausteine einnehmen. Die Uhr muss ich daher ständig im Auge behalten.
Jetzt, wo die Seminarstunde vorüber ist, bin ich erleichtert und zufrieden. Alles lief gut, keine Fragen, die offen blieben, weil ich sie nicht beantworten konnte. Alle Übungen wurden bearbeitet, alle Beispiele vorgestellt. Auch die Studierenden scheinen zufrieden. Obwohl LdL für mich einen zeitlichen und kognitiven Mehraufwand bedeutete und ich mich zeitweise überfordert fühlte, bereue ich meine Entscheidung es auszuprobieren nicht. Es war eine Herausforderung, das Thema so aufzubereiten, dass alle Seminarteilnehmer es verstehen und anwenden können. Aber jetzt ist es einfach ein großartiges Gefühl, eine gelungene Seminarstunde gehalten zu haben.
LdL ist ein alternatives Unterrichtskonzept, dass ursprünglich für die Schule konzipiert wurde, sich aber auch an der Uni einsetzen lässt. Dabei übernehmen in Seminaren die Studierenden selbst abwechselnd die Rolle des Dozenten, bereiten die Inhalte auf und überlegen sich, wie sie diese ihren Kommilitonen verständlich vermitteln und die Sitzung gestalten sollten. Alles in allem bedeutet LdL auf jeden Fall einen Mehraufwand für den Studierenden, aber auch ein Mehr an Lernerfolg. Ich selbst habe nicht nur viel über mein eigenes Thema gelernt, sondern auch darüber, wie man eine ganze Seminarsitzung sinnvoll strukturiert, Inhalte verständlich aufbereitet und vermittelt, Übungen gestaltet, andere Studierende zur aktiven Teilnahme motiviert und bei all dem noch das Zeitmanagement einhält. Verglichen mit einem klassischen Referat ist der Druck deutlich größer, da man die Verantwortung für die gesamte Seminarsitzung trägt. Umso schöner ist das Gefühl, wenn die Sitzung gut gelaufen ist und man ein positives Feedback von seinen Kommilitonen bekommt.
Im universitären Alltag ist LdL zweifellos eine gute Alternative zu klassischen Seminaren mit Referaten. Allerdings erfordert diese Lehr-Lern-Methode eine angemessene Betreuung durch den Dozenten. Aus Studierendensicht wäre es jedoch wünschenswert mehr Veranstaltungen anzubieten, die auf diesem Konzept beruhen. Insbesondere für Masterstudierende, die in ihrem Studium schon fortgeschritten sind, halte ich es für eine wertvolle Erfahrung, selbst einmal die Rolle des Dozenten einzunehmen. Denn gerade für den Erwerb überfachlicher Kompetenzen wie komplexes Problemlösen, exploratives Denken, Projektkompetenz etc. sowie wissenschaftsmethodische Kompetenzen ist das Konzept vorbildlich.
1 Im Folgenden werden wir ausschließlich aus Gründen der besseren Lesbarkeit durchgängig die männliche Form verwenden, was keinesfalls bedeuten soll, dass es sich hierbei lediglich um männliche Protagonisten handelt.