Schmidt, A. & Scholz, E. (2011). Lebst du noch oder studierst du schon? Wie Bologna den Arbeitsaufwand von Studierenden tatsächlich verändert hat. w.e.b.Square, 01/2011. URL: http://websquare.imb-uni-augsb...
Vorlesungen, Seminare, Prüfungsvorbereitungen: Der Tag hat für Studierende nie genug Stunden. Von früh bis spät sitzen sie in der Universität und werden nicht mit ihrer Arbeit fertig. Besonders seit der Bologna-Reform sind die Klagen der Studierenden lauter geworden. Der Workload sei zu hoch, der Stress enorm. Doch die Ergebnisse einer aktuellen Studie zeichnen ein anderes Bild. Laut dem ZEITLast-Projekt bleiben die Studierenden weit unter dem von Bologna vorgegebenen Arbeitspensum. Heißt das, die Studierenden sind faul und beschweren sich grundlos? Oder steckt doch mehr dahinter?
„Ring, Ring!" Der Wecker klingelt. Viel zu früh. Zumindest wenn es nach Simon geht. Müde kämpft er sich aus den Unterlagen, die auf seinem Bett verstreut liegen. Die Folien der letzten Psychologievorlesung, die halb ausgefüllten Übungsblätter für Statistik und die angefangenen Readertexte von Kommunikationswissenschaft. Überreste einer langen Arbeitsnacht. Und auch heute steht wieder viel an: Erst Vorlesung, dann Seminar und im Anschluss zwei Treffen mit Referatsgruppen. Zwischendrin Recherche in der Bibliothek. Auch wenn Simon ein fiktiver Student ist, sein Tagesablauf ist es nicht. So wie ihm geht es im Moment vielen Studierenden. Das „süße Studentenleben", von dem ihre Eltern noch geschwärmt haben, ist ihnen fremd. Das Klischee vom gemütlichen Dauerstudenten im zwanzigsten Semester, der die Nächte durchfeiert, ist längst überholt. Spätestens seit der Umstellung auf Bachelor- und Masterstudiengänge im Zuge der Bologna-Reform stehen Studierende in Deutschland unter einem viel größeren Arbeitsdruck. Ihren Frust darüber haben sie in den Studentenprotesten vergangenes Jahr deutlich gemacht und die Öffentlichkeit war sich einig: Die Studierenden sind überlastet. Umso überraschender sind nun die Ergebnisse einer aktuellen Studie. Dem ZEITLast-Projekt zufolge ist die Arbeitsbelastung der Studierenden viel geringer als allgemein angenommen. Um diesem Widerspruch auf den Grund zu gehen, lohnt es sich, einen Blick auf die Anfänge von Bologna zu werfen.
Die Geburtsstunde von Bologna
Am 19. Juni 1999, also vor über zehn Jahren, unterzeichneten die Hochschulminister die Bologna-Erklärung (Berliner Kommuniqué, 2003). Die Vertreter von 29 europäischen Ländern setzten sich damit das Ziel, bis zum Jahr 2010 einen einheitlichen Europäischen Hochschulraum zu schaffen. Dafür wurde eine entscheidende Neuerung eingeführt: Das zweistufige Studiensystem. Während an deutschen Universitäten jahrzehntelang auf Diplom und Magister studiert wurde, strebte die Generation von Simon von nun an Bachelor und Master an. Die Idee dahinter: Simon und seine Kommilitonen - egal ob aus Spanien, Schweden oder Österreich - sollten einen vergleichbaren Abschluss machen. Die länderübergreifende Anerkennung von Bachelor und Master sollte den Studierenden mehr Möglichkeiten im europäischen Ausland eröffnen: Vom Studieren über das Absolvieren von Praktika bis hin zum Arbeiten (Bundesministerium für Bildung und Forschung, 2010). Aber die Studienabschlüsse in Europa sollten nicht nur die gleichen Namen tragen, sondern auch in Bezug auf Arbeitsbelastung, Niveau, Lernergebnisse und vermittelte Kompetenzen vergleichbar werden.
Deswegen führten die Bildungsminister das sogenannte ECTS-Punktesystem (European Credit Transfer System) ein. Mehrere Lehrveranstaltungen eines Studiengangs wurden zu Modulen zusammengefasst und mit einer bestimmten Anzahl von ECTS-Punkten versehen. Diese Punkte stehen für den Workload, also den Arbeitsaufwand der Studierenden. Für einen ECTS-Punkt muss Simon 25 bis 30 Stunden Arbeit investieren. In einem Jahr ist der Erwerb von 60 ECTS-Punkten vorgesehen - das entspricht umgerechnet maximal 1800 Arbeitsstunden. Zu diesen zählen nicht nur die Zeit, die Simon im Hörsaal sitzt, sondern auch alle anderen Tätigkeiten für die Uni. Ob nun das Vor- und Nachbereiten der Vorlesungen, das Erarbeiten von Prüfungsinhalten oder das Selbststudium, alles wird mit eingerechnet. Mit Bologna haben die Bildungsminister beschlossen, den gesamten studentischen Arbeitsaufwand in die Bewertung mit einzubeziehen (Hochschulrektorenkonferenz, 2009).
Damit kam es zu einer bedeutenden Änderung der Studienorganisation: von der bisherigen Inputlogik zur Outputlogik. Früher lag der Schwerpunkt auf dem Input, den die Dozenten den Studierenden in ihren Vorlesungen und Seminaren gaben. Durch die Bologna-Reform stand der Output der Studierenden im Zentrum, also das, was sie selbst erarbeiteten und produzierten. Somit war Schluss mit dem bloßen Abzählen der Semesterwochenstunden, stattdessen wurde der gesamte studentische Arbeitsaufwand betrachtet. Damit sollte ein wichtiges Anliegen von Bologna umgesetzt werden: die bessere Vorbereitung der Studierenden auf den Arbeitsmarkt. Kompetenzorientierung ist hier das Stichwort. Unter Kompetenzen werden „Dispositionen für selbstständiges Handeln und Problemlösen" (Reinmann, 2007, S. 8) verstanden. Für Simon könnte das folgendermaßen aussehen: Bei einer Vorlesung würde ihm nicht nur die Präsenzzeit angerechnet, sondern er bekäme beispielsweise auch Punkte für eine vorlesungsbegleitende Gruppenarbeit. In dieser würde er mit Kommilitonen kursbegleitende Texte lesen und besprechen und somit Kompetenzen wie Teamfähigkeit, Zeitmanagement und Eigeninitiative ausbauen. Simon könnte nach seinem Abschluss mit derartigen Fähigkeiten bei seinen zukünftigen Arbeitgebern punkten. Bei diesen sind solche Kompetenzen mehr gefragt als bloßes Faktenwissen. (Reinmann, 2007, S. 7 f). Soviel zur Theorie. Aber wie weit ist der Bologna-Prozess heute in Deutschland fortgeschritten? Wie sieht die Praxis an den Hochschulen aus?
Schafft die Reform einen erfolgreichen Sprung in den Uni-Alltag?
Bis zum Wintersemester 2010/2011 sind an allen deutschen Universitäten und Fachhochschulen bestehende Studiengänge den Vorgaben der Hochschulminister entsprechend verändert worden: Sie wurden modularisiert, haben eine feste Regelstudienzeit und basieren auf dem ECTS-Punktesystem (Bundesministerium für Bildung und Forschung, 2010). Doch mit der Einführung der Rahmenbedingungen ist der Prozess noch lange nicht abgeschlossen. Obwohl der Hochschulalltag formal von Bologna bestimmt wird, gibt es trotzdem noch viele Probleme nach bzw. mit der Umsetzung. Erstmals ist den Studierenden vorgegeben, wie viele Stunden sie für Referate, Klausuren und ähnliches aufwenden sollen. Dadurch wird ihnen einerseits Arbeitszeit zugestanden, aber andererseits wird auch ein bestimmter Arbeitsaufwand eingefordert. Die in der Bologna-Erklärung festgelegte Arbeitsstundenzahl pro Semester ist von Experten nur geschätzt (Metzger, 2010, S. 288). Im Laufe der weiteren Entwicklung drängt sich die Frage auf: Ist diese Schätzung korrekt? Sind die Studiengänge so noch studierbar?
Ein Blick in die Hörsäle - wie viel arbeiten die Studierenden wirklich?
„Eine Klage von Studierenden und auch der Eindruck vieler Lehrender war, dass der Workload zu hoch angesetzt wurde und dass dies für die Studierenden gar nicht machbar ist", so Dr. Christiane Metzger im Interview1. „Der Ausgangspunkt von ZEITLast war deswegen, dass man empirisch belegen wollte, wie hoch die Workload und die zeitliche Belastung der Studierenden sind. Aufbauend darauf sollten hochschuldidaktische Interventionen entwickelt werden, um die Situation zu verbessern", erklärt Metzger. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Hamburg und Teil der Leitung des Projekts „ZEITLast" (Universität Hamburg, 2010). ZEITLast befasst sich mit der Studierbarkeit von Bachelor- und Masterstudiengängen und ist im April 2009 vom Hamburger Bildungsforscher Prof. Dr. Rolf Schulmeister ins Leben gerufen worden. Seitdem werden von der Projektleitung und den Projektpartnern an den vier Partneruniversitäten Hamburg, Hildesheim, Ilmenau und Mainz Zeitbudgetanalysen und kontrollierte Befragungen von Studierenden durchgeführt. Die Bandbreite der untersuchten Studiengänge reicht dabei von Medien- und Kommunikationswissenschaft über Erziehungswissenschaft bis hin zu Mechatronik. Diese Vielfalt ist nötig, denn die neue Arbeitsbelastung seit Bologna ist ein fächerübergreifendes Problem. Ein besonderer Schwerpunkt wurde bei der Studie auf die Themengebiete Workload, Zeitorganisation und Belastungen sowie Bewältigungsstrategien der Studierenden gelegt (Universität Hamburg, 2010).
Im Gegensatz zum Vorgehen bei den meisten bisherigen Untersuchungen rund um das studentische Arbeitspensum, entschied sich die Projektleitung der ZEITLast-Studie gegen die Erhebung des Zeitbudgets mithilfe eines Fragebogens. Dadurch hatten sich stets Probleme ergeben, da die Studierenden bei retrospektiven Fragen nach ihrem Zeitaufwand nur geschätzte Angaben machen konnten. Somit wurde nur erhoben, was Metzger als „gefühlten Wert" bezeichnet. Ihrer Meinung nach spielte außerdem die soziale Erwünschtheit eine große Rolle. Studierende orientierten sich bei ihren Antworten bewusst oder unbewusst an dem, was von ihnen erwartet wurde. Um diese Schwierigkeiten zu umgehen, entwickelte die Projektleitung ein eigenes Erhebungsinstrument: den Online-Zeiterfassungsbogen. Sein Aufbau sieht laut Metzger folgendermaßen aus: In dem Bogen halten die Studierenden fünf Monate lang fest, was sie jeden Tag wie lange gemacht haben. Nach dem Öffnen des Online-Tools kann der Studierende zuerst die Dauer einer bestimmten Aktivität eintragen und diese dann einer Kategorie zuordnen. Zur Verfügung stehen beispielsweise die studienbezogenen Kategorien „Anwesenheit in Lehrveranstaltungen", „Selbststudium", „Organisatorisches" (wie Sprechstundenbesuche oder Kopieren von Unterrichtsmaterialien) oder „Praktikum". Bei den nicht-studienbezogenen Kategorien haben die Studierenden die Möglichkeit, zwischen Unterpunkten wie „private Zeit" oder „Jobben" zu wählen. So wird ihr tatsächlicher Zeitaufwand genau protokolliert.
Abb. 1: Oberfläche des Erhebungsinstruments der Zeitbudget-Analyse (Metzger, 2010, S. 289)
Überraschende Ergebnisse
Bereits nach der ersten Zeitbudget-Analyse im Wintersemester 2009/2010 (Metzger, 2010, S. 290) zeigten sich unerwartete Ergebnisse. Diese wiederholten sich in den darauf folgenden Untersuchungen. „Uns hat überrascht, dass die Workload, die wir mittlerweile in 13 Studiengängen erhoben haben, im Schnitt weit unter dem liegt, was Bologna verlangt", so Metzger. Weiterhin stellt sie fest: Die Selbsteinschätzungen der Studierenden bezüglich ihres Arbeitspensums stimmen häufig nicht mit dem Zeitaufwand überein, den sie tatsächlich investieren. In der ZEITLast-Studie wurden die 30 ECTS-Punkte, die pro Semester zu erbringen sind, auf 150 geforderte Stunden im Monat umgelegt. Dieser Wert wurde von den teilnehmenden Studierenden im Wintersemester 2009/2010 erst im Januar annähernd erreicht und auch da nur in drei der sechs untersuchten Studiengänge (Metzger, 2010, S. 291). Demzufolge wird der von Bologna geforderte Arbeitsaufwand überwiegend im Prüfungszeitraum, also je nach Studiengang von Januar bis März, erbracht. In den betrachteten BA-Studiengängen werden außerdem nur zwischen 52 Prozent und 72 Prozent der von Bologna vorgegebenen Zeit wirklich in das Studium investiert. Die Ausgangshypothese des Projekts, dass die Arbeitsbelastung der Studierenden zu hoch sei, konnte somit nicht belegt werden (Metzger, 2010, S. 295 f).
Wo ist die Schuld zu suchen?
Ein Grund für den niedrigen Arbeitsaufwand der Studierenden liegt für Metzger in der Methodik und Didaktik der Lehrveranstaltungen. Denn diese unterstützen kaum die Eigeninitiative der Studierenden. Statt selbst die Möglichkeit zu bekommen, über Studieninhalte nachzudenken und zu diskutieren, hören die Studierenden meist nur passiv anderen zu. Wenn sich Geisteswissenschaftler beispielsweise „durch Referate-Seminare quälen, in denen es wenig Input oder Feedback von den Lehrenden gibt, müssen sie im Extremfall ihre Zeit damit totschlagen, schlechte Referate zu hören", so Metzger. Den Studierenden fehlt eine kontinuierliche Rückmeldung, die ihr Selbststudium unterstützen und dieses in die Präsenzveranstaltungen einbinden würde (Metzger, 2010, S. 301). Dadurch sinkt die Motivation der Studierenden, sich Inhalte eigenständig zu erarbeiten. Das spiegelt sich in ihrem niedrigen Arbeitspensum wieder.
Außerdem leiden die Studierenden unter der kleinteiligen Semesterorganisation. In einer Woche besuchen sie mehrere ein- bis zweistündige Veranstaltungen. Somit müssen sie zehn bis zwölf Mal die Woche das Thema wechseln, an dem sie arbeiten (Metzger, 2010, S. 297). Dieser häufige Wechsel erschwert es den Studierenden, sich mit einem Thema intensiver auseinanderzusetzen. Hinzu kommen die „Zeitlücken zwischendurch", also die oft recht kurzen Zeiträume zwischen den verschiedenen Veranstaltungen eines Tages, so Metzger. Des Weiteren erklärt sie: „Da entstehen dann leicht mal zwei, drei, vier Stunden zwischendurch, die man zum Teil gar nicht richtig nutzen kann, oder die eben zum Teil auch nicht sinnvoll genutzt werden." Die Folge: Studierende wie Simon verbringen häufig den ganzen Tag an der Universität, nutzen aber nur wenig Zeit effektiv für ihr Studium.
Auch das Prüfungswesen trägt seinen Teil zu der subjektiv empfundenen Belastung der Studierenden bei. Die Prüfungen finden momentan vor allem am Ende des Semesters statt. So mussten in einem Extremfall Studierende eines an der ZEITLast-Studie teilnehmenden Studiengangs sieben Klausuren in zwei Wochen schreiben. An diese ungleichmäßige Prüfungsverteilung passen die Studierenden ihr Lernverhalten an. Deswegen konzentriert sich ihr Selbststudium fast ausschließlich auf eine kurzfristige Prüfungsvorbereitung. Eine semesterbegleitende Unterrichtsvor- und -nachbereitung kommt zu kurz. Statt Vertiefung und Vernetzung der Inhalte kommt es zum Bulimie-Lernen: Innerhalb kürzester Zeit pauken die Studierenden das benötigte Wissen für die Klausuren, vergessen es anschließend aber sofort wieder (Metzger, 2010, S. 296).
Gibt es Licht am Ende des Bologna-Tunnels?
Doch Ziel der ZEITLast-Studie ist es nicht nur, die studentische Arbeitsbelastung zu dokumentieren. Metzger und ihren Kollegen geht es auch darum, die Lernsituation der Studierenden künftig zu verbessern. Dabei ist sie sicher: „Wenn man die Studiengänge reformieren möchte, dann ist es nicht damit getan, zu sagen: In dem Modul musst du das Seminar weniger machen und in dem anderen Modul die Vorlesung weniger. Es ist offensichtlich in vielen Studiengängen nicht der Zeitfaktor, der die große Belastung hervorruft, die die Studierenden empfinden." Statt also wahllos Fächer und Veranstaltungen aus dem Stundenplan der Studierenden zu streichen, sollte über grundlegende Änderungen in der Lehrorganisation nachgedacht werden.
Dazu gehört beispielsweise der Aufbau des Stundenplans. Diesbezüglich schlägt Metzger vor, nicht mehr alle Module eines Semesters parallel laufen zu lassen. Vielmehr sollten die Module konsekutiv, also aufeinanderfolgend, jeweils als inhaltlich zusammenhängender Blockunterricht angeboten werden. In ihrem Ergebnisbericht über die ZEITLast-Studie beschreibt Metzger die möglichen Auswirkungen dieser Neuerung: Das Selbststudium könnte besser in die Lehrveranstaltung eingebunden werden. Die meist unproduktiven Zeitlücken zwischen den einzelnen Lehrveranstaltungen würden wegfallen. Außerdem würden die Studierenden nicht mehrmals täglich mit Themenwechseln konfrontiert. Stattdessen könnten sie sich intensiver auf die verschiedenen Perspektiven eines einzelnen Themas konzentrieren. Durch diese Neuorganisation der Lehrveranstaltungen ließe sich auch ein häufig gemachter Fehler bei der Umsetzung der Bologna-Vorgaben beheben: Aus Kapazitätsgründen wurden bereits bestehende Lehrveranstaltungen namentlich zu Modulen zusammengefasst, ohne sie inhaltlich aufeinander abzustimmen (Metzger, 2010, S. 300). Dadurch fehlte den Veranstaltungen eines Moduls der rote Faden. Zu den häufigen Themenwechseln unter der Woche kam somit noch die thematische Zersplitterung innerhalb der Module hinzu, die die Studierenden verwirrte und das strukturierte Lernen erschwerte.
Einige der an der ZEITLast-Studie teilnehmenden Partneruniversitäten experimentieren bereits mit den Verbesserungsvorschlägen von Metzger und ihren Kollegen. Beispielsweise die TU Ilmenau. Sie hat sich dazu bereiterklärt, ihre Lehrorganisation in einigen Studiengängen probeweise umzustellen und didaktische Interventionen durchzuführen. Im Zuge dessen wird seit dem Wintersemester 2010/2011 der Aufbau des Studiengangs Mechatronik im 5. Fachsemester umgestellt (Metzger, 2010, S. 300). Laut Metzger wird eines der vier Module des Studiengangs an drei Tagen in der Woche in geblockter Form unterrichtet. Dies erfolgt zumeist über vier Wochen. Dann folgt das nächste Modul. Präsenz- und Selbststudienphasen wechseln sich dabei ab. So gibt der Dozent zum Beispiel morgens ein Input und anschließend bearbeiten die Studierenden eine inhaltlich vertiefende Aufgabe. Abschließend werden die Ergebnisse gemeinsam besprochen und die Studierenden erhalten ein Feedback.
Abb. 2: Blockunterrichts-Modell des BSc-Studiengangs Mechatronik an der TU Ilmenau (ZEITLast-Studie 2010)
Auf diese Weise werden auch die Methodik und die Didaktik der Lehrveranstaltungen in Ilmenau verbessert, so Metzger. Ein von ihr genanntes Beispiel: Früher lag der Fokus der Professoren auf dem Input, also dem stupiden Vorrechnen von Aufgaben an der Tafel. Wenn die Studierenden jedoch weiterführende Übungen selbst bearbeiten sollten, unterstützten die Dozenten sie kaum. Heute hat sich durch das regelmäßige Feedback der Lehrenden ihre Interaktion mit den Studierenden stark verbessert. Durch die Besprechung der eigenständig erarbeiteten Ergebnisse im Plenum wird der Bezug zwischen Selbststudium und Präsenzsitzung gestärkt. Laut Metzger zeigt die Methode Erfolg. Nach einer erneuten Zeitbudget-Analyse im Anschluss an die Reorganisation der Lehrveranstaltung steht fest: Wo früher fast ausschließlich in der Prüfungszeit am Ende des Semesters gelernt wurde, hat ein Umdenken eingesetzt. „Die Selbststudienphasen werden viel intensiver genutzt", stellt Metzger fest. „Außerdem deuten die Ergebnisse auch darauf hin, dass die Studierenden viel zufriedener sind und sich besser betreut fühlen." Im Zuge des ZEITLast-Projekts werden die Ilmenauer Studierenden regelmäßig zu ihrer neuen Unterrichtssituation befragt. Das Ergebnis: Die Studierenden fühlen sich zwar durchaus mehr in Anspruch genommen, aber die Umstellung der Lehrorganisation und die neuen Methoden wirken sich positiv auf ihre Zufriedenheit aus.
Auch das momentane Prüfungswesen sollte verbessert werden. Hier schlägt Metzger vor, nicht mehr pro Modul nur eine große Klausur am Ende des Semesters anzusetzen. Stattdessen wäre eine Verteilung der Prüfungsleistungen auf verschiedene Arten von Prüfungsformen über das Semester hinweg vernünftiger. Die Studienleistungen würden somit zeitnah zu den behandelten Themen erfolgen (Metzger, 2010, S. 298). Zwar würden nach wie vor Klausuren geschrieben, allerdings fielen diese kleiner und kürzer aus als bisher. Des Weiteren gibt es kleinere Vorträge, die in die Gesamtnote mit eingehen. „Ein entlastender Faktor ist, dass nicht mehr alles von einer Prüfung abhängt, sondern dass es sich auf kleinere Häppchen verteilt, von denen unter Umständen auch nicht alle angerechnet werden", so Metzger.
Fazit
Vor fast elf Jahren wurde der Bologna-Prozess angestoßen. Die Bildungsminister führten damit neue Ideen für die Hochschulpolitik ein. Zum einen die erweiterte Mobilität der Studierenden innerhalb der europäischen Mitgliedsländer: Durch einheitliche Abschlüsse sollte die Vergleichbarkeit der Studiengänge in Europa gewährleistet werden. Zum anderen die neue Bewertung der studentischen Leistungen: Erstmals sollte der gesamte Arbeitsaufwand der Studierenden in das studentische Arbeitspensum mit eingerechnet werden. Zu diesem Zweck wurde das ECTS-Punkte-System eingeführt und somit der Schritt von der Input- zur Outputlogik vollzogen. Statt reiner Wissensvermittlung sollte der Erwerb von Kompetenzen für das spätere Berufsleben im Mittelpunkt stehen. Um all das umzusetzen, hätte eine umfassende Reform der Lehrorganisation folgen müssen. Diese blieb bis jetzt jedoch in den meisten Fällen aus. Die Ansätze sind da, aber nicht alle Hochschulen bemühen sich gleich stark um eine Umsetzung der Neuerungen. Oftmals sind nicht alle Veranstaltungen inhaltlich überarbeitet worden. Viele Universitäten haben bestehende Lehrveranstaltungen zu Modulen zusammengefasst, ohne ihre Inhalte aufeinander abzustimmen.
In der Regel spiegelt sich die Idee von Bologna nicht in der Praxis wieder. Leidtragende sind die Studierenden. Sie fühlen sich überlastet und gestresst. Die Ergebnisse der ZEITLast-Studie zeigen: zu Unrecht! Die Studierenden betreiben kaum Selbststudium und erreichen höchstens in den Prüfungswochen die vorgegebenen Arbeitsstunden. Doch wer die Studierenden nun für faule Jammerlappen hält, der hat zu kurz gedacht. Fehlendes Feedback der Lehrenden, schlecht strukturierte Stundenpläne und die Konzentration der Prüfungen am Ende des Semesters senken ihre Lernmotivation. Es wird höchste Zeit, dass sich an den Hochschulen etwas ändert. Die Verantwortlichen des ZEITLast-Projekts schlagen vor: geblockte Veranstaltungen mit eingebauten Selbstlernphasen, mehr Feedback und Interaktion im Hörsaal und Verteilung der Prüfungsleistungen über das ganze Semester und auf verschiedene Prüfungsarten. Das könnte den Studierenden aktuell weiterhelfen. Und es besteht die Chance, dass sie nicht länger auf diese Unterstützung warten müssen.
Immer mehr Hochschulen in Deutschland sind an der ZEITLast-Studie interessiert. Dies ist ein Schritt in die richtige Richtung. Allerdings darf man nicht vergessen, dass die Ergebnisse des ZEITLast-Projekts nicht auf alle Studiengänge in Deutschland übertragbar sind. Die Anzahl der bisher untersuchten Studienfächer ist begrenzt. Außerdem liegt der Schwerpunkt bis jetzt auf Geistes-, Sozial- und Ingenieurwissenschaften. Erst weitere Untersuchungen werden zeigen, ob die Aussagen der Studie über das Arbeitsverhalten der Studierenden beispielsweise auch auf Naturwissenschaftler zutreffen.
Abschließend lässt sich sagen: Die Grundideen von Bologna sind gut, wurden aber an den Hochschulen nicht immer ausreichend umgesetzt. ZEITLast bietet einige Vorschläge, um die aktuelle Situation zu verbessern. Mit einer Neustrukturierung der Lehrorganisation könnte der studentische Alltag der Generation Simon in Zukunft zum Positiven verändert werden: Schluss mit chaotischen langen Arbeitsnächten und einem zerstückelten Tagesplan. Kein Hetzen mehr von einem Termin zum anderen und keine verlorenen Stunden zwischen den Vorlesungen. Stattdessen: tagsüber intensive Arbeitsphasen und abends genug Zeit für Freunde, Freizeit und eine gesunde Portion Schlaf.
1Telefoninterview mit Frau Dr. Christiane Metzger am 08.12.2010; alle direkt im Artikel verwendeten Aussagen von Frau Metzger beziehen sich auf dieses Interview