Ehrenreich, A. & Kühnemuth, J. (2011). Gefangen in den Klauen der Zeit. Studierende zwischen Bologna-Vorgaben und tatsächlichem Workload. w.e.b.Square, 01/2011. URL: http://websquare.imb-uni-augsb...
Bologna hat die Krallen ausgefahren und vor keinem Studierenden Halt gemacht. Durch zahlreiche Proteste haben Studenten versucht, sich zu befreien. Doch Zeitdruck, Prüfungen und Punktewahn sind stärker. Die ZEITLast-Studie von Christiane Metzger und Rolf Schulmeister (Universität Hamburg) lässt das Monster Bologna jedoch harmloser erscheinen und wirft die Frage auf, ob Studierende nicht zu Unrecht protestieren. Die vorgegebene Workload wird nicht annähernd erreicht. Schätzen Studierende ihren Arbeitsaufwand falsch ein?
09.00 Uhr:
Der Wecker klingelt. In einer Stunde beginnt die Vorlesung in Volkswirtschaftslehre. Paul* (22), Student der Betriebswirtschaftslehre (BWL) an der Hochschule Regensburg, tastet schlaftrunken nach dem piepsenden Ungetüm. Warum in die Vorlesung gehen, wenn doch die Kommilitonin sowieso alles mitnotiert? Noch ehe er den Gedanken zu Ende führen kann, ist die Bettdecke schon wieder über den Kopf gezogen.
Lea* (20), Studentin im 3. Semester Medien und Kommunikation an der Universität Augsburg, sitzt bereits seit knapp zwei Stunden über ihren Lehrbüchern.
10.12 Uhr:
Während seine Kommilitonen in der Vorlesung sitzen, genießt Paul seine erste Tasse Kaffee.
Bei Lea ist es schon die dritte. Ihr Koffeinkonsum entspricht dem Lernpensum.
10.20 Uhr:
Der frühe Vogel fängt den Wurm - was anfangen mit dem neuen Tag? Paul hat die Qual der Wahl: Lernen für die Klausur in zwei Monaten? Viel zu früh. Computerspielen, facebook oder lieber eine Folge „Two And A Half Men"?
Lea schwingt die Tasche über die Schulter. Auf in die Bibliothek. Dort wartet schon die Kommilitonin. Das Referat wartet nicht, es steht schon übermorgen an. Adiós Leben, wir sehen uns in zwei Tagen!
Paul vs. Lea: Wie sieht der typische Student und sein Alltag in Zeiten Bolognas wirklich aus?
Bologna - Reformation im 21. Jahrhundert
19.06.1999: Glückstag oder Albtraum? Der Bologna-Prozess spaltet seit seiner Geburtsstunde die Gemüter ganz Europas. Die weit reichenden Konsequenzen für das europäische Hochschulsystem konnten die 29 BildungsministerInnen zu diesem Zeitpunkt noch nicht erahnen. Der Prozess entwickelte eine Eigendynamik, welche das Hochschulsystem grundlegend reformierte (vgl. Maeße, 2010, S. 17).
Die Intention der Neuerung ist es, einen „einheitlichen europäischen Bildungsraum (European Higher Education Area, EHEA)" (Walter, 2006, S. 13) zu schaffen. Daraus resultieren folgende Hauptziele: Mehr Mobilität für Studierende, Einführung eines einheitlichen Leistungspunktesystems (European Credit Transfer System), Förderung der Kooperation zwischen Universitäten und vergleichbare Abschlüsse (Bachelor/Master) (vgl. Walter, 2006, S. 13-15, S. 161-166).
Es haben sich 45 europäische Staaten dazu verpflichtet, die Bologna-Vorgaben bis zum Jahr 2010 zu erfüllen (Stand 2010). Die konkrete Umsetzung liegt hauptsächlich in den Händen der einzelnen Länder (vgl. Wintermantel, 2010).
Die Jagd nach Punkten
Der studentische Alltag ist inzwischen maßgeblich durch das ECTS-Punktesystem (European Credit Transfer System) bestimmt, das im Zuge von Bologna an den Hochschulen Einzug gehalten hat. Demnach müssen Studierende pro Jahr 1800 Arbeitsstunden in ihr Studium investieren. Nach den Bestimmungen von Bologna sollen 45 Wochen eines Jahres für das Studium verwendet werden. So ergeben sich 40 Arbeitsstunden in der Woche. Für einen Arbeitsaufwand (Workload) von 25-30 Stunden erhalten Studierende einen ECTS-Punkt (Leistungspunkt = LP). Im Semester werden 30 LP gesammelt (entspricht 900 Arbeitsstunden).
Lea fühlt sich durch die Punktejagd sehr unter Druck gesetzt. Dieses Semester kann sie nur 28 LP machen, da sie ein begehrtes Seminar aufgrund der hohen Nachfrage nicht belegen konnte. Das erhöht Leas Arbeitsaufwand für das nächste Semester: „Da muss ich dann ordentlich Punkte sammeln!"
Denn bis zum Bachelor-Abschluss müssen 180-240 ECTS-Punkte auf dem Lernkonto der Studierenden eingegangen sein, für den Masterabschluss zusätzlich 60-120 (vgl. Wintermantel, 2010). Die Workload umfasst sowohl Präsenzveranstaltungen an der Hochschule (Vorlesungen, Seminare, Übungen, Tutorien) als auch die Vor- und Nachbereitung letzterer (vgl. Metzger, 2010, S. 287-288).
Die Lawine rollt
Die Umsetzung in der Realität ist nicht so einfach. In der nahen Vergangenheit wurden immer wieder Proteste gegen Bologna laut. Im Zentrum steht dabei vor allem der gestiegene Arbeitsaufwand. Durch die Verkürzung der Studiendauer muss derselbe Lernstoff in kürzerer Zeit verarbeitet werden. Überladene Lehrpläne und eine hohe Anzahl an Leistungsnachweisen sind die Folge. Studierende sehen sich dadurch mehr und mehr überfordert (vgl. Merkt, 2010).
Dies schlägt sich auch in der steigenden Zahl der Studienabbrecher nieder. Laut einer bundesweiten Befragung von Exmatrikulierten des Studienjahres 2007/2008 haben 70 Prozent der Studienabbrecher ihr Studium aus Gründen der Überforderung beendet. Im Jahr 2000 waren es dagegen nur 55 Prozent. Gerade Studienanfänger haben kaum die Möglichkeit, Bewältigungsstrategien für den Lernstoff zu entwickeln, ehe auch schon die ersten wichtigen Prüfungen anstehen. Der Bologna-Prozess mit der daraus resultierenden Stoffverdichtung hat also entscheidenden Einfluss auf das Studienabbruchverhalten Studierender (vgl. Heublein et al., 2009, S. 21, S. 45-46).
Ein möglicher Grund für die Überforderung ist die „mangelhafte [...] Synchronisation von Workload und Semesterrhythmus" (Schulmeister, 2007, S. 247). Der Erwerb von Leistungspunkten beschränkt sich hauptsächlich auf die Präsenzzeiten. Vor- und Nachbereitungen dieser sind aufgrund des dichten Stundenplans kaum möglich. In den Semesterferien jedoch sinkt das Arbeitspensum der Studierenden erheblich. Die Zeit wird hauptsächlich für Hausarbeiten und größere Projekte aufgewendet. Manche Studierende wie Paul haben in der vorlesungsfreien Zeit sogar häufig gar nichts zu tun. „Da erhole ich mich von meinen Freizeitaktivitäten während des Studiums", scherzt Paul. Präsenzveranstaltungen mit Vor- und Nachbereitung gibt es im Regelfall während den Ferien nicht. Eine Betreuung durch Dozierende findet in diesem Zeitraum meist nicht statt (vgl. ebd.). Die Universität fällt in einen „Dornröschenschlaf" (Knigge-Illner & Kruse, 1994, S. 98). Dies gilt sowohl für Studierende als auch für Angestellte. Nach dem Stress des vergangenen Semesters sinkt die Motivation rapide (vgl. ebd.).
Darüber hinaus sind die Studierenden auch mit der Themenvielfalt überfordert. So sehen sie sich innerhalb einer Woche mit mehreren Themenwechseln konfrontiert: „Von Lernpsychologie über Statistik bis hin zur Evaluation von Studierenden - mir brummt der Kopf. Ständig muss ich mich auf etwas Neues einstellen", so Lea. Anstatt sich intensiv mit einem Thema über einen längeren Zeitraum hinweg auseinander setzen zu können, fordert die Lehrorganisation eine zu hohe kognitive Flexibilität.
Dauer-Stress, Dauer-Lernen und Dauer-Druck. Eine Lawine an Leistungsanforderungen überrollt die Studierenden, sodass kaum Luft zum Atmen bleibt. Sind Studierende also wirklich geplagte Arbeitstiere?
Sein und Schein
Hingegen aller Proteste um Bologna haben Christiane Metzger und Rolf Schulmeister in ihrer ZEITLast-Studie (2010) etwas ganz anderes herausgefunden. BA/BSc-Studierende investieren im Durchschnitt pro Woche lediglich 26 Stunden in ihr Studium. Dies liegt deutlich unter der vorgegebenen Workload von 40 Stunden. Beschweren sich Studierende zu Unrecht? (vgl. Wiarda, 2010)
Anders als erwartet, bringt die Studie zu Tage, dass sich Studierende nur in der Prüfungszeit (Januar und Februar) halbwegs der 40-Stunden-Workload annähern. Diese Diskrepanz zeigt sich besonders im Dezember. Hier verwenden zum Beispiel die Mechatronik-Studenten der TU Ilmenau durchschnittlich 51 Stunden für ihr Studium (Präsenz- und Selbststudium). Der zu erfüllende Wert dagegen liegt bei 150 Stunden.
Erst kurz vor den Klausuren wird gepaukt und der Stoff nachgeholt. Der typische Student leidet unter chronischer „Aufschieberitis" (Heidenberger, 2010). In der Psychologie wird das Verhalten des ewigen Aufschiebens auch als Prokrastination bezeichnet (vgl. Metzger, 2010, S. 291-294).
„Reinfuttern, rauskotzen, vergessen"
Dieses Vorgehen führt zum Bulimie-Lernen (Lammers, 2009). Da nicht über das ganze Semester hinweg kontinuierlich mitgelernt wird, muss der gesamte Stoff kurz vor den Prüfungen nachgeholt werden. So ist der Selbststudiumsanteil der Mechatroniker von 106 Stunden im Februar zu erklären (vgl. Metzger, 2010, S. 293). „‚ Aufschieben‘ ist eines der häufigsten Arbeitsprobleme von Studierenden" (Knigge-Illner & Kruse, 1994, S. 94). Obwohl sie am Anfang des Semesters häufig noch gute Vorsätze haben, verfallen sie doch wieder in den alten Trott des Aufschiebens. Bis die Studierenden diese Erkenntnis schließlich erlangen, ist es für Gegenmaßnahmen zu spät. Frust ist vorprogrammiert (vgl. ebd.).
Nach drei Monaten Aufschieberitis türmen sich die unberührten Bücherstapel. Mit nicht bearbeiteten Arbeitsblättern könnte man vermutlich die eigene Studentenbude tapezieren. Das schlechte Gewissen schafft es nicht immer, diese vor dem Kleister zu retten: „Ein schlechtes Gewissen habe ich eigentlich nicht. Schließlich stimmt das Preis-Leistungs-Verhältnis. Für den Arbeitsaufwand, den ich aufbringe, bin ich mit meinen Noten voll zufrieden. Warum sollte ich dann etwas an meinem Lernverhalten ändern?", so Paul.
Doch dieses Bulimie-Lernen ist höchst kontraproduktiv, da nur eine oberflächliche Verarbeitung des Gelernten stattfindet. Unmittelbar nach den Prüfungen ist das meiste schon wieder vergessen.
Gelbe Karte für die Uni
Doch haben Studierende eine andere Wahl? Oder passen sie sich nur den universitären Bedingungen an? Fakt ist: Die mangelhafte Lehrorganisation stellt einen entscheidenden Grund für dieses Lernverhalten dar. Die am Semesterende angehäuften Prüfungen tragen dazu bei, dass die Studierenden erst dann die Motivation haben, sich intensiv mit dem Lernstoff zu beschäftigen. Für stetiges Mitlernen besteht kein Anlass, nicht zuletzt durch die oftmals fehlende Anbindung an die Lehrveranstaltungen. Zu lesende Texte werden in den Präsenzterminen nicht besprochen. Die Betreuung der Studierenden durch die Dozierenden während des Selbststudiums ist gering (vgl. Metzger, 2010, S. 301).
Wie kann es aber dann sein, dass sich Studierende während des Semesters dennoch großem Stress ausgesetzt sehen? Studierende schätzen ihre Workload höher ein, als dieser tatsächlich ist (vgl. Metzger, 2010, S. 297). Es liegt auf der Hand, dass ein großer Unterschied zwischen subjektiver und objektiver Belastung besteht. Dies rührt unter anderem daher, dass sich die Studiensituation verändert hat. Während früher die Universität als „Freiraum, wo man nachdenken, Kaffee trinken, diskutieren und herausfinden kann, was einen interessiert" (Lammers, 2009) gesehen wurde, steht heute die Leistung im Vordergrund. Die erhöhte Workload allein kann jedoch nicht als einzige Ursache gesehen werden. Der entstandene Druck hat mehrere Gründe. Auch Lehrorganisation und Prüfungswesen tragen ihren Teil dazu bei. So lassen häufige Themenwechsel innerhalb einer Woche eine intensive Beschäftigung mit dem Lernstoff nicht zu. Oftmals sitzen Studierende an einem Tag in drei verschiedenen Veranstaltungen, deren Themen sich stark unterscheiden (vgl. Metzger et al., 2010, S. 2). Auf die Woche hochgerechnet können so zehn bis zwölf Themenwechsel stattfinden (vgl. Metzger, 2010, S. 297). Dies verlangt eine hohe kognitive Leistung von den Lernenden. „Die Studenten brauchen einfach Zeit, um sich in ein Thema reinzudenken", erklärt die Diplom-Ingenieurin Katja Hoffmann de Linares, Mitwirkende an der ZEITLast-Studie (Gerstlauer, 2010).
So wie die Themen sind auch die Prüfungsnachweise unterschiedlichster Natur. Einmal muss nur eine Klausur geschrieben werden, ein anderes Mal ist diese zusätzlich an eine Gruppenarbeit gekoppelt. Dann gibt es wiederum Seminare, die ausschließlich aus Referaten bestehen. Bei Letzteren lässt das methodisch-didaktische Vorgehen der Lehrenden (Aufbau und Organisation von Veranstaltungen) des Öfteren zu wünschen übrig. Die Informationen beruhen nur auf den Ausführungen der Referenten, eine Rückmeldung von den Dozierenden erfolgt nur in seltenen Fällen. Seinen Höhepunkt erfährt der ständige Druck in der permanenten Benotung aller Leistungen. Jede Note geht in den späteren Abschluss mit ein (vgl. ON 3, 2010).
Realitäts-Check
Doch nicht alles Übel liegt an der Hochschule. Auch der Student selbst trägt die Verantwortung für seine persönliche Studiensituation.
Erinnern wir uns an Lea und Paul. Ihr Alltag unterscheidet sich grundlegend. Während der eine noch in den Federn liegt und von der letzten Party träumt, hat die andere ihr Wissen schon um zwei Bücher erweitert. Letztendlich liegt die Gestaltung des Studentendaseins in den Händen jedes Einzelnen. Um einen allgemeinen Überblick über das subjektive Belastungsempfinden und das Zeitmanagement der Studierenden zu bekommen, haben wir eine eigene kleine empirische Studie durchgeführt.
Dazu wurde von einer Gruppe Bachelorstudierenden der Universität Augsburg gegen Ende des Jahres 2010 25 Studierende1 im Alter von 20 bis 25 Jahren befragt. Der Fragebogen richtete sich an Bachelor- und Masterstudierende sowie an Studierende des modularisierten Lehramtstudiums. Um ein möglichst umfassendes Bild zu bekommen, wurden Studierende aus verschiedenen Fakultäten der Universität Augsburg befragt. Im Vordergrund der Befragung stand die Erfassung des Zusammenhangs zwischen subjektiver und objektiver zeitlicher Belastung Studierender. In diesem Rahmen wurde versucht, mögliche Zeitfresser zu identifizieren.
Auffallend bei den Ergebnissen ist, dass sich ein Großteil der Befragten (15 Personen) zeitlich mit der Universität sehr ausgelastet fühlt (vgl. Abb. 1).
Dieses Ergebnis wird gestützt von der ZEITLast-Studie, welche ebenfalls zu Tage gebracht hat, dass die subjektive Belastung als sehr hoch empfunden wird. Ein Teilnehmer dieser Studie sagt: „Subjektiv betrachtet bin ich sehr nah an einer 40-Stunden-Woche dran, denke ich" (Hoppe, 2010). Auch 17 Befragte der Universität Augsburg sind der Meinung, dass ihr Studium einen Großteil des Tages einnimmt. Gleichzeitig gestehen sich aber 15 Personen ein, Vorlesungen und Seminare nicht nachzubereiten (vgl. Abb. 2).
Ähnliches gilt für die Vorbereitung selbiger. Daraus folgt, dass 22 Befragte hauptsächlich in den Wochen vor den Klausuren lernen (vgl. Abb. 3).
So geht es auch Paul: „Ich lerne normalerweise erst nach den Weihnachtsferien, da ich Ende Januar Prüfungen schreibe."
Wer hat an der Uhr gedreht...
Wie ist es nun zu erklären, dass sich der Großteil der Studierenden zeitlich sehr ausgelastet fühlt, aber erst gegen Ende des Semesters annähernd die vorgeschriebene Workload von 40 Stunden pro Woche erreicht (vgl. Metzger, 2010, S. 293)?
Das Gefühl, mehr zu lernen, als man es eigentlich tut, rührt zum Teil daher, dass sich immer wieder Zeitfresser in die Arbeit einschleichen. Ein Blick auf die Uhr bescheinigt vier Stunden Arbeit, doch was man währenddessen noch gemacht hat, ist vergessen. Mara, Medien und Kommunikationswissenschafts-Studentin der Universität Hamburg, hat an der ZEITLast-Studie teilgenommen. Sie war erschrocken über ihren tatsächlichen Arbeitsaufwand. Ihr ist deutlich geworden, wie viel Zeit sie durch Nebensächlichkeiten wie Kaffee machen und das Internet vergeudet. Auch freie Zeit zwischen Seminaren bleibt häufig ungenutzt. Dennoch hat sie abends das Gefühl, den ganzen Tag für ihr Studium aufgewandt zu haben (vgl. Schaaf, 2010). Doch nicht nur in Maras Alltag verstecken sich zahlreiche Zeitfresser. Auch die Augsburger Befragten lassen sich des Öfteren ablenken, hauptsächlich durch das Internet (24 Befragte) und die Freunde (23 Befragte).
Mancher Zeitfresser sind sich die Studierenden durchaus bewusst. Sie bauen sie absichtlich in ihren Alltag ein, wenn die Motivation zum Lernen fehlt. Da dies häufig der Fall ist (16 Befragte), sind die Ausreden vielfältig. Jedoch werden die vorgeschobenen Tätigkeiten von den Studierenden in der Regel als sinnvoll betrachtet, um das schlechte Gewissen zu besänftigen. So wird der Chat in facebook als notwendiges Aufrechterhalten sozialer Kontakte gesehen, ein kleines Staubkorn wird Anlass zum Großputz und menschlichen Bedürfnissen kommt plötzlich eine ganz große Bedeutung zu. „Wenn ich lernen muss, dann putze ich lieber meine Wohnung. Oder ich mache mir etwas zu essen, weil ich denke, ich hätte Hunger", so Paul.
...ist es wirklich schon so spät?
Durch diese vielen Nebentätigkeiten scheint sich die Arbeitszeit enorm auszudehnen. Da ist es nicht verwunderlich, dass kaum ein längerer Zeitraum zur individuellen Freizeitgestaltung übrig bleibt. Hinzu kommt, dass die freie Zeit sowieso durch den Stundenplan gestückelt wird. Liegen die Veranstaltungen über den ganzen Tag verteilt, bleiben dazwischen nur kurze Pausen, die jedoch nicht zum Selbststudium verwendet werden. Dieses Phänomen beschreibt Rico, Teilnehmer der ZEITLast-Studie, folgendermaßen: „Du hast den Kopf noch voll von den letzten Veranstaltungen und in der nächsten geht es schon wieder um ein ganz anderes Thema. Irgendwann will man von dieser Informations- und Wissensflut auch einfach mal abschalten." (Hoppe, 2010) Damit wird auch wieder das Problem der vielen Themenwechsel angesprochen.
Abschalten, die Universität beiseite schieben, dies gelingt aber lediglich vier der Augsburger Befragten (vgl. Abb. 4).
Der Großteil (20 Personen) hat ständig das Gefühl, noch etwas für die Uni machen zu müssen. Daraus entsteht ein Druck, der den Studierende ständig im Nacken sitzt. Sie können nie abschalten, was dazu führt, dass sie trotz geringer Arbeit nie ausgeruht sind (vgl. Knigge-Illner et al., 1994, S. 100). Dies wird ebenfalls dadurch bedingt, dass sich die Lehrveranstaltungen wie bereits erwähnt über den gesamten Tag erstrecken.
Von der Mehrheit der Studierenden wird hingegen ein ganz anderer Stundenplan bevorzugt, bei dem die Veranstaltungen am Vormittag liegen (Dollase, 2000, S. 270). So kann die Zeit am Nachmittag - entweder zum Selbststudium oder zur Erholung - besser genutzt werden. Dies lässt sich jedoch an der Hochschule nicht so leicht organisieren, da nicht genug Räume zur Verfügung stehen.
Ein gutes Zeitmanagement könnte den teilweise ungünstigen Bedingungen an der Hochschule (Themenvielfalt, Veranstaltungsverteilung etc.) entgegenwirken.
„Ich habe keine Arbeitsdisziplin."
Pauls Aussage bringt das Problem auf den Punkt. Die freie Arbeitseinteilung ist „Segen und Fluch zugleich" (Spoun et al., 2004, S. 12). Es erfordert ein hohes Maß an Selbstdisziplin und Organisationstalent, regelmäßig mitzulernen und die Arbeit des Selbststudiums sinnvoll einzuteilen (vgl. Stock, 2009, S. 47). Ein effizientes Zeitmanagement ist von Nöten. Viele Studierende teilen sich ihre Zeit allerdings falsch beziehungsweise gar nicht ein. Da werden zum Beispiel zu lange Pausen gemacht, dafür wird nach dem Mittagessen gelernt, wenn die Leistungskurve drastisch abfällt. Oder die Lernenden leben ziellos in den Tag hinein, ohne dabei einem Lernplan zu folgen (vgl. Corsten et al., 2008, S. 4). Ein solcher kann aber sehr hilfreich sein: Zeitknappheit, Stress und Bulimie-Lernen vor den Prüfungen haben keine Chance, wenn diesen ein gutes Zeitmanagement vorangegangen ist. Ohne Lernplan und Zeitmanagement ähnelt das Verhalten vieler Studierender dem mancher Arbeitslosen. Wie bei diesen besteht kein Druck. Sie leben nach dem Motto: „Was du heute kannst besorgen, das verschiebe ruhig auf morgen". Sie verlieren jegliches Gefühl, ihre Zeit sinnvoll einzuteilen (vgl. Knigge-Illner et al., 1994, S.97).
Studierende sollten sich zunächst realistische Lernziele setzen und diese in Tages- und Wochenziele unterteilen (vgl. Becher, 2008, S. 98, S.102). Des Weiteren kann es helfen, Zeitfresser zu identifizieren, indem man über eine Woche hinweg ein Zeitprotokoll führt. Darin sollten Lernende in 15-Minuten-Schritten all ihre Tätigkeiten festhalten. Anschließend können Zeitfresser überdacht werden: Sind sie in Ordnung oder stellen sie ein erhebliches Hindernis für den Lernfortschritt dar? Falls Letzteres der Fall ist, sollten sie aus dem Alltag gestrichen werden (vgl. Stock, 2009, S. 87).
Reform der Reform?
Gegen Bologna wurde viel demonstriert: Studenten besetzten Hörsäle und selbst Politiker konnten sich nicht einigen. Die Ergebnisse der ZEITLast-Studie können jedoch viele Vorwürfe der Demonstranten nicht bestätigen. Man könnte meinen, den Protesten wird dadurch die Grundlage entzogen (vgl. Schaaf, 2010). Aber so einfach ist das nicht. Die Klagen der Studierenden hinsichtlich ihrer Arbeitsbelastung sind schließlich nicht an den Haaren herbeigezogen. Die Hochschuldidaktik lässt tatsächlich an vielen Stellen zu wünschen übrig und spielt in das subjektive Belastungsempfinden der Lernenden mit ein.
Doch das kann geändert werden. Schulmeister schlägt hierfür mehrere Lösungen vor. Zum einen können so genannte Brückenkurse die hohen Abbrecherquoten der Studienanfänger reduzieren. Solche Kurse sollen eine Verbindung zwischen Schule und Hochschule schaffen und so den Übergang zwischen den recht unterschiedlichen Systemen erleichtern. (vgl. Schulmeister, 2007, S. 233). Ein weiterer Lösungsvorschlag ist die Einführung von Blockveranstaltungen. Dies ermöglicht die intensive Auseinandersetzung mit einem bestimmten Lernstoff innerhalb einer kurzen Zeitspanne, beispielsweise an einem Wochenende. Es wird ermöglicht, sich ausschließlich auf ein einziges Thema zu konzentrieren. Außerdem gibt es keine verschwendete Zeit zwischen mehreren aufeinander folgenden Veranstaltungen (vgl. Metzger, 2010, S. 300). Beide Veranstaltungsformen können zusätzlich durch E-Learning-Angebote unterstützt und verbessert werden. Schulmeister hat herausgefunden, dass E-Learning eine Reihe positive Aspekte mit sich bringt: Durch den Einsatz von E-Learning „verbesserte sich der Lernerfolg, die Verbleiberate stieg, die Motivation veränderte sich und die Zufriedenheit der Studierenden mit den neuen Lernmethoden wuchs" (Schulmeister, 2007, S. 242-243).
Trotz dieser neuen Verfahren sollte man den Studierenden nicht zu viel zumuten. Die ZEITLast-Studie sowie unsere eigene empirische Untersuchung haben bestätigt, dass sich Lernende auch mit einer Workload unter 40 Stunden pro Woche völlig ausgelastet fühlen. Schulmeister vermutet, „dass man [bei der Bologna-Reform] [...] von der ideologischen Position ausgegangen ist, dass es Studierende nicht besser haben dürfen als die Mitglieder der ‚arbeitenden Bevölkerung'" (Schulmeister, 2007, S. 246). Doch dabei wurde nicht berücksichtigt, dass man Lernen und Arbeiten nicht gleichsetzen kann. Metzger schließt sich ihrem Kollegen an. 20 Stunden Studium seien nicht vergleichbar mit 20 Stunden Büroarbeit (vgl. ON 3, 2010).
„Lernen ist etwas Anderes als Arbeiten, Lernen braucht Zeit, im Lernen muss sich einen denkende und lernende Persönlichkeit erst entwickeln. Lernen bedeutet auch Sozialisation, Integration in eine Lernkultur und eine Fachkultur." (Schulmeister, 2007, S. 257)
Festzuhalten bleibt, dass Studierende ihren Workload wirklich falsch einschätzen. Die vorgeschriebenen 40 Stunden pro Woche werden kaum erreicht, lediglich in der Prüfungszeit nähern sich die Studierenden dieser Vorgabe an. Man kann jedoch nicht pauschal sagen, dass alle Studierende ihren Tag vertrödeln und nichts für die Universität leisten. Wie wir festgestellt haben, liegt der Fehleinschätzung des Arbeitsaufwands ein komplexes Zusammenspiel verschiedenster Faktoren zugrunde.
Das hohe subjektive Belastungsempfinden sollte bei der Festsetzung der Workload berücksichtigt werden. Um die Studierenden zu entlasten, sollte man auf die Proteste eingehen und den wöchentlichen Arbeitsaufwand herabsetzen. Nur so können sich Studierende wieder frei entfalten und Spaß am Lernen haben.
19.30 Uhr:
Es klingelt an Pauls Tür. Der Pizzabote bringt die Belohung für eineinhalb Stunden Englischübung.
Lea kommt völlig erschöpft nach einem anstrengenden Tag an der Uni nach Hause. Doch von Feierabend keine Spur. Kochen, Putzen, danach noch Vorbereitungen auf die nächste Gruppenarbeit.
21.07 Uhr:
Paul loggt sich bei facebook ein. Eine volle Freundesliste, doch niemand hat Zeit für einen kleinen Chat. Alle sind am Lernen. Die machen sich doch ihren Stress selbst, denkt sich Paul und öffnet eine Flasche Bier.
Lea indessen ist völlig verzweifelt. Doch dann trifft sie die Erkenntnis wie ein Schlag. Sie greift zum Hörer und teilt ihrer besten Freundin mit: „Oft denke ich, ich habe voll Stress, schaffe das alles nicht und muss mein Studium abbrechen. Doch eigentlich mach ich mir dadurch die Probleme doch selbst." Trotzdem setzt sie sich wieder an den Schreibtisch und lernt weiter.
Den typischen Studenten gibt es eben nicht.
*Namen geändert.
1Lehramt Grundschule Mathe/Kunst/Deutsch/Englisch
Lehramt Hauptschule
Lehramt Realschule Englisch/Mathe
Lehramt Realschule Mathe/Deutsch
Lehramt Gymnasium Sport/Englisch (Zweimal)
Lehramt Gymnasium Deutsch/Geschichte
Lehramt Gymnasium Deutsch/Englisch
Lehramt Gymnasium Mathe/Sport
Lehramt Gymnasium Mathe/Englisch
Informationsorientierte Betriebswirtschaftslehre (Viermal)
Germanistik und Geschichte
Medien und Kommunikation (Fünfmal)
Sozialwissenschaften (Zweimal)
Kunst- und Kulturgeschichte, Nebenfach Germanistik
Vergleichende Literaturwissenschaft
Mathematik
• Becher, S. (2008). Schnell und erfolgreich studieren. Organisation, Zeitmanagement, Arbeitstechniken. Eibelstadt: Lexika-Verlag.
• Corsten, H. & Deppe, J. (2008). Technik des wissenschaftlichen Arbeitens. München: Oldenbourg.
• Dollase, R. (2000). Wann sollen Vorlesungen und Seminare liegen? In R. Dollase (Hrsg.), Temporale Muster. Die ideale Reihenfolge der Tätigkeiten (S. 270). Opladen: Leske + Budrich.
• Gerstlauer, A. (2010). Zu viel Freizeit für Studenten? In Institut für Journalistik der Technischen Universität (Hrsg.), pflichtlektüre. Studierendenmagazin der Universitäten Bochum, Dortmund und Duisburg-Essen. Dortmund. URL: http://www.pflichtlektuere.com... (13.12.2010).
• Heidenberger, B. (2010). Aufschieberitis (Prokrastination) oder der Sieg über den Schweinehund. zeitblüten. URL:http://www.zeitblueten.com/563/aufschieberitis-prokrastination-schweinehund/ (13.12.2010).
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• Schaaf, J. (2010). Andere Leute müssen auch Kekse backen. FAZ.NET. URL:http://www.faz.net/s/RubCD175863466D41BB9A6A93D460B81174/Doc~EB5BD7AB2AE304019ABA0ECDBBA6DA658~ATpl~Ecommon~Scontent.html (14.12.2010).
• Schulmeister, R. (2007). Der „Student Lifecycle" als Organisationsprinzip für E-Learning. In R. Keil, M. Kerres & R. Schulmeister (Hrsg.), eUniversity - Update Bologna. Münster: Waxmann. URL: www.zhw.uni-hamburg.de/uploads... (01.10.2010). S. 229-261.
• Spoun, S. & Domnik, D. (2004). Erfolgreich studieren. Ein Handbuch für Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler. München: Pearson Studium.
• Stock, S. (2009). Erfolgreich studieren. Vom Beginn bis zum Abschluss des Studiums. Berlin: Springer.
• Walter, T. (2006). Der Bologna-Prozess. Ein Wendepunkt europäischer Hochschulpolitik?. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
• Wiarda, J. (2010). Von wegen Bulimie. Den Bologna-Studenten geht es viel besser als behauptet. ZEIT ONLINE. URL: http://www.zeit.de/2010/41/C-B... (13.12.2010).
• Wintermantel, M. (2010). Bologna-Prozess im Überblick. Stiftung zur Förderung der Hochschulrektorenkonferenz. URL:http://www.hrk.de/bologna/de/home/1916.php (12.12.2010).
• Wintermantel, M. (2010). Module, ECTS-Punkte und Workload. Stiftung zur Förderung der Hochschulrektorenkonferenz. URL:http://www.hrk.de/bologna/de/home/1923_2116.php (12.12.2010).