Sulzberger, B. (2009). "Education to all". Studium zwischen Elitenförderung und technischem Fortschritt. w.e.b.Square, 01/2009. URL: http://websquare.imb-uni-augsburg.de/2009-01/10
Wer kein Abitur hat und trotzdem studieren will, trifft mit ihr eine gute Wahl: Die Akademische Fern-Fortbildung an der renommierten britischen Open University. Vorausgesetzt, Englisch und Arbeitsmoral sind top.
„Das klingt ja interessant", dachte sich Carmen Schneider, als sie zum ersten Mal von der Open University (OU) im Südosten Englands hörte. An dieser britischen Fernuniversität, so erfuhr die Eon-Angestellte von einem Dozenten, können Weiterbildungswillige aus ganz Europa international anerkannte Hochschulabschlüsse machen - und das ganz ohne Abitur. Das war vor sieben Jahren. Damals arbeitete die Fremdsprachenkorrespondentin als Sekretärin beim Düsseldorfer Energiekonzern und büffelte nebenher auch noch für ihr Diplom zur staatlich geprüften Übersetzerin. Doch das war Carmen Schneider nicht genug. Um beruflich vorwärts zu kommen, beschloss sie, ihre Sprachkenntnisse noch mit Betriebswirtschaft zu ergänzen. So schrieb sie sich Ende 2001 an Europas größter staatlicher Fernhochschule in Milton Keynes ein - bequem von zu Hause aus am Computerbildschirm. Drei arbeitsintensive Jahre später konnte die Teilzeitstudentin in London ihre Bachelor-Urkunde persönlich in Empfang nehmen (Obmann, 2008).
Die OU ist die größte, staatliche Universität in Großbritannien und gleichzeitig die größte staatliche Fernuniversität Europas. Sie wurde 1969 von der damaligen britischen Labour-Regierung ins Leben gerufen und brachte 1983 angesichts der weltweiten Forderung nach qualitativ hochwertigen, wirtschaftlich orientierten Studiengängen die Open University Business School (OUBS) hervor. Der ursprüngliche Grund für die Gründung der OU war: Auch Berufstätige aus bildungsferneren Bevölkerungsschichten sollten die Chance haben, akademische Auszeichnungen zu erlangen. Der Sitz und Campus der Open University befindet sich in der Stadt Milton Keynes. Die OU operiert jedoch bei der Studiendurchführung nicht nur in Großbritannien, sondern unterhält Büros in ganz Europa an insgesamt 31 Standorten. In Deutschland finden sich drei Zentren: in München, Hamburg und Köln (Open University, 2009a).
Die OU Business School verfügt über die international anerkannten Akkreditierungsauszeichnungen der AACSB, EFMD (EQUIS und CEL) und AMBA. Europaweit sind derzeit nur neun Universitäten von diesen drei renommierten Akkreditierungsorganisationen anerkannt. Durch ihre Akkreditierungen wurde die OU bzw. die OUBS weit über Englands Grenzen bekannt und genießt weltweite Anerkennung. In vielen Ländern ist eine Akkreditierung erforderlich, wenn ganz bestimmte Mindestanforderungen an die Qualität anerkannt werden sollen. Diese Auszeichnungen sind somit als Gütesiegel zu verstehen.
Exkurs: Auszeichnungen und ihre Bedeutung (Open University Business School, 2006)
Die OU beschreibt ihr grundsätzliches Studiensystem gern mit den einfachen Worten: „Learn and Live“. Während heute wie damals Carmen Schneider jährlich rund 200.000 Studenten an der OU studieren, sind tatsächlich nur etwa 150 Studierende vor Ort in Milton Keynes. Sie arbeiten beispielsweise an einer Promotion oder an einem Forschungsprogramm. Alle anderen studieren per Fernunterricht (Distance Learning), meistens berufsbegleitend und neben einer Vollzeit-Anstellung. Die gesamte Organisation des Studiums basiert auf dem so genannten „Supported Distance Learning“, einer Variation des „Blended Learnings" (Reimann, 2009). Es handelt sich um eine Art des Fernstudiums, bei dem man durch einen Tutor begleitet wird und ganz im Sinne des Selbststudiums von den ca. 280 Professoren der Multimedia-Uni per Post und im Web umfangreiches Studienmaterial zu Verfügung gestellt bekommt. Dabei wechseln sich traditionelle Unterrichtsmaterialien wie Lehrbücher ab mit Internet, Multimedia und audiovisuellen Lehrsendungen. Neben intensiver fachlicher und persönlicher Beratung korrigieren die Tutoren auch die schriftlichen Hausarbeiten und vergeben Noten. Kein Wunder also, dass die Open University in Konkurrenz mit 130 anderen englischen Hochschulen zur „Number one“ in Sachen Studentenzufriedenheit gekürt wurde. Allerdings werden hier sehr gute Englischkenntnisse benötigt, denn an der Open University wird nur Englisch gesprochen.
Gemäß eigener Aussagen wird auf persönliche Betreuung durch den Tutor und auf den Kontakt zu anderen Studienkollegen großer Wert gelegt. Die Studierenden stehen in regelmäßigem persönlichen, telefonischen und E-Mail Kontakt zu ihren Tutoren und treffen sich auch geschlossen als Kurs. Je nach Studienfach finden etwa alle sechs Wochen meist samstags örtliche Tutorials statt. Hinzu kommen Workshops im In- und Ausland und Alumni-Veranstaltungen, zu denen ehemalige Studenten auch Neueinsteiger einladen. Zudem existieren so genannte Residential Schools, – meistens Wochenend-Seminare in Großbritannien – die etwa drei bis vier Mal während eines gesamten Studiums stattfinden. Die Teilnahme an den Tutorials ist freiwillig, die an den Residential Courses jedoch Pflicht. Den ständigen Austausch untereinander ermöglicht unter anderem auch das „Internet Conferencing System“ der OU Business School. Der Dialog findet international zwischen Studienkollegen in über 40 Ländern statt (Open University, 2009b).
Die Studiengänge bei der OU sind grundsätzlich modular aufgebaut. Dabei ist Flexibilität Trumpf. Erstsemester können zwischen rund 170 Kursen in 15 Fachbereichen wählen. Das Spektrum reicht allein im Fachbereich Wirtschaft vom simplen Bilanzbuchhaltungs-Zertifikat bis hin zum MBA-Titel, der an der angegliederten OU Business School erworben werden kann. Zertifikate und Abschlusszeugnisse aus dem „OU-Baukasten“ können entweder als berufliche Zusatzqualifikation erworben werden oder der eifrige Fernstudent sammelt Module gezielt zu einem akademischen Titel wie dem Bachelor of Arts (BA), dem Bachelor of Science (BSc) oder dem Master. Diese Module müssen in bis zu drei Aufbaustufen – den drei so genannten Leveln – belegt und bestanden werden, von denen jede mit einer Punktezahl honoriert wird. Abhängig vom Kurs bewegt sich die Anzahl der verliehenen Punkte dabei zwischen zehn und 60 Einzelpunkten. Wie sich diese Bonuspunkte sinnvoll summieren, verrät ein ausgefeilter Online-Studienplaner. Dank internationalem Credit-Points-System kann auch eine deutsche Vorleistung wie das Vordiplom an der OU zeit- und geldwerte Vorteile bringen.
In der Regel werden für das Grundstudium in einem Jahr 60 Punkte belegt, was einem Teilzeitstudium entspricht. Ein Vollzeitstudium dagegen umfasst 120 Punkte pro Jahr. Da die meisten Studenten der OU jedoch berufstätig sind, wird dies nur von einer sehr geringen Anzahl in Anspruch genommen. Zum Erreichen eines Abschlusses, wie dem Bachelor of Arts, ist eine Mindestpunktzahl erforderlich. So dauert beispielsweise ein MBA-Abschluss gut 2 1/2 Jahre. Die OU bietet akademische Abschlüsse vom BA bis hin zu Promotionsstudiengängen. Lediglich zum Doktor med. oder dem deutschen Diplom-Architekten kann man sich an der Fernuni nicht fortbilden. Neun beziehungsweise sechs Monate sind für jeden Einzelkurs vorgesehen, ein Komplettstudiengang dauert mehrere Jahre. Sein Lernpensum und -tempo bestimmt jedoch jeder Student selbst. Für viele, die neben Job, Partner, Freunden und Familie noch ein englischsprachiges Studium durchziehen wollen, ist das oftmals die eigentliche Herausforderung.
„The Open University provides high-quality university education to all“ (Open University, 2009c). Eine klare Aussage, gut platziert ganz oben auf der Internet-Startseite der Open University: Bildung für alle, fester Teil ihres Erfolgsrezepts seit der Grün-dung 1969. Auch wenn sich am Wahrheitsgehalt dieser Aussage nicht viel rütteln lässt, so sollte sie doch mit Vorsicht genossen werden. Fakt ist: Weder Abitur noch bestimmte Berufsausbildung sind nötig, um an der OU ein erfolgreiches und international anerkanntes Studium zu gestalten. Die einzigen Zugangsvoraussetzungen sind das Mindestalter von 18 Jahren und ein Wohnsitz in der Europäischen Union oder in der Schweiz. Hinzu kommen fundierte englische Sprachkenntnisse. Menschen, die in einer eher bildungsfernen Umgebung und Bevölkerungsschicht aufgewachsen sind oder deren schulische Leistungen einfach nicht ausreichten, erhalten so die Möglichkeit, doch noch in den Genuss einer akademischen Fortbildung zu gelangen. Dazu kommt außerdem, dass sich ein OU-Studium problemlos als Teilzeit-Studium einrichten lässt. So wird die aktuelle berufliche Laufbahn nicht gefährdet. Abgesehen von den gelegentlichen Pflichtversammlungen am Wochenende kann der arbeitswillige Halbzeit-Student fast alles in Ruhe von zu Haue erledigen. Für Menschen, die sich eine anderweitige, kostspielige- und zeitaufwändige Anreise nicht leisten können, öffnen sich also ebenfalls Tür und Tor.
Ein Studium – egal ob vor Ort oder auf Distanz – bedeutet immer auch Eigenverantwortung. Vor allem Studierende von Fernstudiengängen brauchen ein hohes Maß an Disziplin, um ihre Fortbildung erfolgreich durchzuziehen. Diese Disziplin wird niemandem in die Wiege gelegt, man muss sie erlernen. Dabei sind Menschen mit langer und intensiver Schulbildung klar im Vorteil. Zu argumentieren, dass diese Menschen die gleichen Chancen haben wie Schulabbrecher, ist sehr fragwürdig. Dazu kommt noch ein Problem, das der berühmte Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi als die fehlende Verbindung von „Herz und Verstand“ (Pestalozzi, 1957, zitiert nach Böhle, 2002, S. 7) bezeichnet. Die Trennung zwischen Wahrnehmung und Denken – so Pestalozzi – entsteht, sobald zu Lernendes nicht mehr emotional mit Personen verbunden werden kann. Das setzt voraus, dass Schüler und Lehrer in ständiger Interaktion miteinander stehen. Trotz aller sozialer Bemühungen der Open University ist dies natürlich bei einem Online-Kurs kaum ununterbrochen möglich. Ein ähnliches Problem bildet die Sprachbarriere. Materialien und jegliche Kommunikation an der OU sind auf Englisch. Zugegeben, „Education to all“ (Open University, 2009c) klingt schon toll. Aber was machen denn „all the people“, die bildungsbedingt gar kein bzw. nur verbesserungswürdiges Englisch sprechen? Natürlich kann man sein Wissen vorher auffrischen, aber eine komplette Sprache in kurzer Zeit neu erlernen und dann eine Anwendung auf wissenschaftlichem Niveau?
Was letztendlich gegen die „Bildung-für-alle“-Theorie spricht, sind die anfallenden Kosten. Die können nämlich ganz schön gesalzen ausfallen. Auf den Leveln eins und zwei bewegen sich die Gebühren in der Regel zwischen umgerechnet 470 und 700 Euro pro bearbeitetem Kurs. Auf Level drei jedoch geht es schon mal auch bis über die 5.000er Marke hinaus – wenn man seinen Hauptwohnsitz auf den britischen Inseln hat. Alle anderen Fernstudenten müssen für jeden Kurs einen zusätzlichen prozentualen Aufschlag zahlen, der sich zwischen 30 und 100 Prozent des ursprünglichen Preises bewegt. Die letztendliche Höhe ist davon abhängig, wieviel Credit Points der Kurs liefert und ob Residential Schools in diesem Kurs mit eingeplant sind. Jetzt stellt sich doch die kritische Frage, wie Menschen aus sozial und damit oft auch finanziell benachteiligten Schichten über mehrere Jahre diese Preise bezahlen sollen? „Learn and Live“ ist ja schön und gut, aber nur mit euphorischer Motivation allein hat noch niemand ein Vermögen gemacht und an der OU vermutlich auch niemand einen akademischen Titel erworben.
Der gerechte Zugang zu Bildung ist eine der wichtigsten sozialen Fragen des 21. Jahrhunderts. Denn wer keinen Zugang zu Bildung hat, wird sich auch in nahezu allen anderen Lebensbereichen schwer tun: auf dem Arbeitsmarkt oder im sozialen Engagement, bei politischer Mitsprache oder in der eigenen Erziehung, beim Konsum oder beim persönlichen Gesundheitsverhalten. Oder mit anderen Worten: Wer nicht zur Bildungselite gehört, hat das Nachsehen (Kunze, 2008). Das Studienprinzip der Open University ist ein schönes Beispiel dafür, dass ein theoretisch „freier Zugang“ zur Bildung unter dem Motto „Education to all“ trotz allem immer die Individuen fördert, die bereits vor dem Online-Kurs wirtschaftlich und sozial besser gestellt waren.
Spätestens mit der Exzellenzinitiative von Bund und Ländern1 für forschungsstarke Universitäten ist der lange verpönte Begriff Elite mit Macht zurückgekehrt: Neun Universitäten dürfen sich selbst als Elite-Universitäten bezeichnen. Was genau soll mit diesem Begriff eigentlich ausgesagt werden? Das Wort „Elite“ stammt ursprünglich ab vom lateinischen „electus“, was so viel bedeutet wie „ausgelesen“. Es bezeichnet soziologische Gruppen oder Schichten aus überdurchschnittlich qualifizierten Personen oder die herrschenden bzw. einflussreichen Kreise einer Gesellschaft (Altrichter & Kopf, 2009). Konkret angewendet bezieht sich der Begriff meist auf näher definierte Personenkreise, z. B. die Bildungselite. Viele rennomierte Soziologen wie Ralf Dahrendorf (Dahrendorf, 1965, zitiert nach Hartmann, 2004, Seite 4) kennen die eigentliche Ursache für den negativen Unterton des Elitenbegriffes in der Bildungspolitik. Um es auf einen Punkt zu bringen: Eliten machen Eliten. Die Herkunft eines Individuums bestimmt seine Bildungsbeteiligung. Dafür verantwortlich sind eine Vielzahl von Auslesemechanismen innerhalb des deutschen Bildungssystems, die zu einer massiven sozialen Selektion führen.
Schon beim Übergang von der Grundschule zur weiterführenden Schule machen sich die milieubedingt besseren Leistungen der Kinder aus den höheren Schichten und Klassen bemerkbar. Was aber noch viel erschreckender ist: Offenbar variieren die Beurteilungen der Lehrkräfte nach sozialer Herkunft (Sentker, 2003). Nach einer Erhebung unter allen Hamburger Fünftklässlern benötigt zum Beispiel ein Kind, dessen Vater das Abitur gemacht hat, ein Drittel weniger Punkte für eine Gymnasialempfehlung als ein Kind mit einem Vater ohne Schulabschluss.
Doch die Ungerechtigkeiten haben erst begonnen. Wer es aus diesen „bildungsfer-nen Schichten“ trotz aller Hürden bis an die Hochschulen geschafft hat, wird dort mit den Verhaltensmustern der „bildungsnahen Schichten“ konfrontiert. Die Betroffenen müssen zudem größere materielle Probleme bewältigen. Kinder aus den bildungsfernen Schichten müssen im Gegensatz zu ihren elitären Kommilitonen in etwa doppelt so oft einer laufenden Beschäftigung nachgehen, um ihr Studium finanzieren zu können. Ein Problem, das durch die Einführung der Studiengebühren in Deutschland aktueller ist denn je. Das schlägt sich entsprechend in ihrem doppelt so hohen Anteil unter den Langzeit-Studierenden nieder. Von den Studierenden, die es bis zur Promotion schaffen, kommen traditionell über die Hälfte aus dem Bürgertum. In den die Elitepositionen klar dominierenden Fächern Ingenieurwissenschaften, Jura und Wirtschaftswissenschaften sind es sogar ca. 60 Prozent. Nun sollten Kinder aus Arbeiter- oder Angestelltenfamilien mit der Promotion ja logischerweise das gleiche Maß an Fähigkeiten und Bemühungen nachgewiesen haben wie ihre bildungsnahen Kollegen. Wobei sogar viel dafür spricht, dass diese Studenten ein größeres Quantum an Begabung und Fleiß benötigt haben. Schließlich müssen sie die zahlreichen Hinder-nisse erst einmal überwinden, die ihnen auf ihrem Bildungsweg alleine schon aus sozialen Gründen begegnen (Hartmann, 2004).
Wie sieht es am Ende des Studiums aus? Zumindest jetzt sollten doch die gleichen Chancen für alle gegeben sein. Oder ist es wirklich so, dass Elitepositionen heutzutage nicht mehr durch Leistung erworben, sondern fast ausschließlich der Herkunft zugeschrieben werden? Michael Hartmann, Professor für Soziologie an der Technischen Universität Darmstadt, war an dieser Frage ausgesprochen interessiert (Hartmann, 2004). In einer eigenen Erhebung untersuchte er die Biografien von 6.500 Doktoren der Promotionsjahre 1955, 1965, 1975 und 1985 in der Bundesrepublik Deutschland, um herauszufinden, ob die soziale Herkunft bei Akademikern mit dem höchsten Bildungsabschluss für den Aufstieg in die Elite relevant ist. In den Bereichen Wirtschaft und Großkonzerne bietet eine bürgerliche Herkunft einen unzweifelhaften Vorteil. Hier werden die Aussichten auf eine Spitzenstellung durch ein bürgerliches Elternhaus unübersehbar begünstigt. Von den Kindern des gehobenen Bürgertums hat es mehr als jeder Achte, aus dem Großbürgertum sogar fast jeder Fünfte geschafft. Arbeiterkinder besitzen offenbar die schlechtesten und Unternehmersöhne die besten Chancen. Immerhin sind Letztere mehr als dreimal so erfolgreich wie Erstere. Ein anderes Bild bietet sich in den übrigen drei Sektoren. Zwar liegen die Kinder aus dem Großbürgertum in der Politik und der Justiz noch knapp vorn, in der Wissenschaft rangieren sie aber ganz am Ende. Der Nachwuchs des gehobenen Bürgertums hat scheinbar in allen drei Bereichen schlechtere Karriereaussichten als die Studierenden aus der Arbeiterklasse und den breiten Mittelschichten.
Doch der erste Eindruck täuscht. Erstens darf man die Konkurrenzsituation in den einzelnen Sektoren nicht aus den Augen verlieren. Wieso sollten sich Kinder des Großbürgertums um Positionen in der Wissenschaft reißen, wenn die Familie beste Beziehungen zu den Spitzen der hohen Wirtschaft hat. Zweitens verändert sich das Bild erheblich, wenn man nur die Elitenpositionen in den Blick fasst. Einige Beispiele dafür sind: In den Chefetagen der Großkonzerne und an den Bundesgerichten dominieren die Söhne des Bürgertums und vor allem des Großbürgertums ganz eindeutig. Bei den führenden Großkonzernen sind die Söhne des gehobenen Bürgertums doppelt, die des Großbürgertums sogar mehr als dreimal so häufig vorhanden wie Kinder aus der breiten Masse. Der Nachwuchs von leitenden Angestellten schafft den Sprung nach oben sogar zehnmal häufiger als Arbeiterkinder. Ein ähnliches Bild bei den Juristen: Nur noch ein Drittel der Bundesrichter und gerade noch einer von acht am Bundesgerichtshof und am Bundesverwaltungsgericht stammt aus der Mittelschicht (Hartmann, 2004).
Hartmanns Studie von 1995 lässt zusammenfassend nur eine Schlussfolgerung zu: Soziale Aufsteiger findet man umso seltener, je wichtiger und machtvoller die Positi-on ist. Söhne des gehobenen und vor allem des Großbürgertums dagegen sind in der Elite im engeren Sinne besonders stark vertreten. Die Fakten geben Hartmann recht: Zwischen 1982 und 2000 hat sich die Anzahl von Studierenden mit „hoher sozialer Herkunft“ von 17 Prozent auf 33 Prozent erhöht. Dabei steigt die Tendenz weiter an. Das Ungleichgewicht zwischen Elite und Nicht-Elite geht beinahe ausschließlich auf die Herkunft zurück. Abgesehen davon, dass Großbürgerkinder die in Deutschland so nötigen Beziehungen und Umgangsformen quasi in die Wiege gelegt bekommen, erhalten sie darüber hinaus durch das deutsche Bildungssystem die entscheidenden Vorteile. Vom Grundschulalter aufwärts werden Elitenkinder gefördert und unterstützt, unabhängig von ihrer eigenen Leistung. Später spielt dann vor allem das finanzielle Polster ihrer Eltern die entscheidende Rolle. Sie müssen neben ihrem Stu-dium nicht arbeiten und können daher im Durchschnitt ein Semester früher in die Arbeitswelt starten, obwohl sie gleichzeitig während ihrer Immatrikulation ungefähr doppelt so häufig eine Universität im Ausland besuchen wie ihre Kommilitonen aus der Mittelschicht (Hartmann, 2004). Das Elternhaus beeinflusst den Zugang zur deutschen Elite ganz direkt und nicht nur mittelbar. Und das in einem Maß, das von vielen Seiten durchaus als beunruhigend verstanden wird (Blau, 2003).