Schubert, D. (2009). Informelles Lernen und Hochschule. Wie im Hochschulkontext informell gelernt wird. w.e.b.Square, 01/2009. URL: http://websquare.imb-uni-augsburg.de/2009-01/6.
Lernen. Wenn sie dieses Wort hören, denken viele Menschen sofort an Schule, Berufsschule, Universität oder Berufsleben. Ihrer Meinung nach findet „Lernen“ hauptsächlich in diesen Bereichen statt. Demzufolge wird „Lernen“ auch oft mit „Pauken“ oder der gezielten Wissensaneignung gleichgesetzt. Dort wird verlangt, möglichst viel Wissen in einem bestimmten Zeitraum anzuhäufen, welches dann in Form von Schulaufgaben, Klausuren, Referaten, mündlichen Prüfungen, Hausarbeiten oder ähnlichem abgefragt wird. Doch „Lernen“ ist nicht gleich „Lernen“! Es gibt verschiedene Arten des Lernens, die im Folgenden näher beschrieben werden. Hierbei liegt der Schwerpunkt auf dem informellen Lernen, welches immer mehr an Bedeutung gewinnt. Des Weiteren wird die Relevanz des informellen Lernens im Hochschulkontext näher beleuchtet.
Wer kennt folgende Situation nicht? Man unterhält sich in der Kaffee- oder Mittagspause mit Kollegen, Freunden oder Kommilitonen ganz belanglos über Wochenendaktivitäten, Hobbys oder aktuelle Themen. Keiner der Anwesenden zielt in dieser Unterhaltung darauf ab, bewusst etwas zu lernen, es geht allein um die Unterhaltung, den Austausch von Meinungen und die Ablenkung der mehr oder weniger stressigen Arbeit an diesem Tag. Doch am Ende des Gesprächs merkt man oft, dass die Pause sehr produktiv war. Diese Art von „Lernen“ nennt man informelles Lernen. Laut Overwien (2004, S. 51) gewinnt das Lernen im Alltag, in familialer Kommunikation, am Arbeitsplatz, in sozialen Bewegungen, im Freizeitbereich oder im Bereich digitaler Medien zunehmend an Bedeutung. Overwien (2004, S. 52) erwähnt, dass die Faure-Kommission der UNESCO Anfang der siebziger Jahre feststellte, dass etwa 70 Prozent aller Lernprozesse des Menschen auf informellem Lernen beruhen.
Nun stellt sich natürlich die Frage: „Was ist überhaupt informelles Lernen und was sind Kennzeichen dieser Art von Lernen?“ Es gibt viele verschiedene Definitionsansätze. Watkins und Marsick (1990, S.12 ff.) setzen, an der Organisationsform des Lernens an und bezeichnen Lernprozesse, welche außerhalb von Institutionen oder außerhalb von Kursangeboten stattfinden und auch nicht von den Institutionen finanziert werden, als informelles Lernen. Nach Marsick, Volpe und Watkins (1999, S. 99) ist informelles Lernen oder „inzidentelles Lernen“, das als Teilbereich des Erstgenannten angesehen wird, in die Arbeit und die tägliche Routine integriert, durch inneren und äußeren Anstoß ausgelöst, oft zufällig veranlasst und beeinflusst. Es ist kein sehr bewusster Prozess, denn es beinhaltet einen induktiven Prozess von Reflexionen und Aktionen und ist mit dem Lernen anderer verbunden. Des Weiteren zeigen sie verschiedene Maßnahmen auf, die diese Art des Lernens, also das informelle Lernen, unterstützen können. Hierbei erwähnen Marsick, Volpe und Watkins (1999, S. 91), dass man Zeit und Raum für das Lernen schaffen und das Umfeld auf (Lern-)Gelegenheiten überprüft werden muss. Der Lernende wird so dazu aufgefordert, seine Aufmerksamkeit auf die Lernprozesse zu lenken, seine Reflexionsfähigkeit zu stärken und ein Klima von Vertrauen und Zusammenarbeit mit anderen Lernenden zu schaffen.
Livingstone (1999, S.68 f.) definiert informelles Lernen komplizierter. Diese Form des Lernens ist, seiner Meinung nach
„jede mit Streben nach Erkenntnissen, Wissen oder Fähigkeiten verbundene Aktivität außerhalb der Lehrangebote von Einrichtungen, die Bildungsmaßnahmen, Lehrgänge oder Workshops organisieren. […] Die grundlegenden Merkmale des informellen Lernens (Ziele, Inhalt, Mittel und Prozesse des Wissenserwerbs, Dauer, Ergebnisbewertung, Anwendungsmöglichkeiten) werden von den Lernenden jeweils einzeln oder gruppenweise festgelegt. Informelles Lernen erfolgt selbstständig, und zwar individuell oder kollektiv, ohne dass Kriterien vorgegeben werden oder ausdrücklich befugte Lehrkräfte dabei mitwirken.“ (ebd.)
Nach Livingstone (ebd.) ist ein weiteres Merkmal des informellen Lernens die Tatsache, dass es zu einer selbstständigen Aneignung neuer signifikanter Erkenntnisse oder Fähigkeiten beim Lernenden kommt, der diese auch später noch als solche erkennen kann. Da die Lernenden dann ihre Aktivitäten bewusst als Wissenserwerb wahrnehmen können, unterscheidet sich informelles Lernen von Alltagswahrnehmungen und allgemeiner Sozialisierung. Nach Overwien (2005) findet informelles Lernen ungeregelt statt, ist ungeplant, wird nicht betreut und auch nicht bewertet. Es erfolgt deshalb unsystematisch und unkontrolliert. Zudem ist er der Auffassung, dass informelle Lernprozesse schwierig zu steuern sind sofern geeignete Rahmenbedingungen fehlen. Dohmen (2001) unterscheidet bei seiner Begriffsdefinition vor allem zwischen verschiedenen Arten des Lernens. Demnach ist „formales Lernen“ ein „institutionell geprägtes, planmäßig strukturiertes Lernen mit anerkannten Zertifikaten“, wohingegen „nicht-formales Lernen“ oder „non-formales Lernen in Kursen“ außerhalb dieses Bereiches liegt. Jede Art des Lernens, die nicht beabsichtigt, also ungeregelt im Lebenszusammenhang stattfindet, bezeichnet er als informelles Lernen. Wie man unschwer erkennen kann, ist diese Begriffsdefinition von Dohmen (2001) der Definition von Watkins und Marsick (1990) sehr ähnlich.
Aufgrund der unterschiedlichen Definitionen und Ansätze wird heute gemeinhin laut der Europäische Kommission (2001) zwischen „formalem Lernen“, „nicht-formalem Lernen“ und „informellem Lernen“ unterschieden.
Aus der Tatsache, dass sich sogar die Europäische Kommission, und somit die höchste politische Instanz in Europa, mit der Thematik des informellen Lernens beschäftigt, zeigt deutlich, dass diese Art zu lernen in der heutigen Zeit von großer Bedeutung für den Zuwachs an Wissen ist. Die Faure–Kommission hat in den 1970er Jahren schon bewiesen, dass 70 Prozent der menschlichen Lernprozesse auf eben dieser Art des Lernens beruhen. Weitere Untersuchungen und Studien versuchten bzw. versuchen diese Erkenntnis zu bestätigen. Im Folgenden werden die elementaren Ergebnisse der wohl umfangreichsten Studie zum informellen Lernen präsentiert, die vom kanadischen Forschungsnetzwerk „New Approaches to Lifelong Learning“ durchgeführt wurde.
Informelles Lernen wird oft in einem Atemzug mit Web 2.0 oder E-Learning genannt. Bei E-Learning handelt es sich, ganz allgemein gesagt, um das Lernen mit elektronischen Medien. Hierbei verwendet der Lernende einen Computer und das Internet. Bei Web 2.0 wird nach O’Reilly (2005) der Nutzer vom reinen Konsument zum (Mit-)Produzenten von Onlineinhalten, z.B. bei Wikis (Webseitensammlungen, die sowohl gelesen als auch bearbeitet werden können), Weblogs (tagebuchartige Einträge in chronologischer Reihenfolge, mit Verlinkungen versehen), Instant Messaging-Systeme (Chatprogramme für synchronen Austausch zwischen Personen), Foren und vielem mehr. Durch diese Art der Beteiligung und den Austausch mit anderen Nutzern kommt es zu einem Wissenszuwachs, der zweifelsfrei dem informellen Lernen zugeschrieben werden kann. Entsprechende Systeme werden unter dem Begriff „Social Software“ zusammengefasst. Natürlich haben solche Social-Software-Systeme auch Vor- und Nachteile, die den Wissenszuwachs einschränken können. So liegt der Vorteil bei Instant Messaging-Systemen darin, dass Ideen und Probleme unmittelbar, also synchron diskutiert werden können und der Wissenszuwachs sofort erfolgen kann. Der Nachteil dabei ist aber, dass es keine Möglichkeit gibt, die Informationen später aufzurufen. Das Problem bei Wikis besteht darin, dass zwar ein gewisser Lerneffekt durch die selbstständige Beschäftigung mit Themenkomplexen und dem Bearbeiten von Einträgen gewährleistet ist. Die Qualität des Eintrags muss jedoch individuell überprüft werden.
Die meisten Social-Software-Systeme basieren auf „Open-Source-Software“. Damit ist die z.B. für die Erstellung oder Verwendung von Wikis notwendige, freie Zugänglichkeit für alle Nutzer gemeint. Neben der freien Zugänglichkeit von Inhalten wird heute ebenso viel Wert auf die damit einhergehende Bildung gelegt. Nach Sporer und Jenert (2008) ist das Ziel von „Open-Education“ eine neue Lehr- und Lernkultur zu schaffen, bei der der Nutzer nicht nur Konsument oder Produzent von Wissensinhalten ist, sondern bei der der Nutzer seine Lernumgebung selbst gestalten kann und zur Innovation (Weiterentwicklung) eben dieser beiträgt. Die technologische Entwicklung allein sorgt aber nicht dafür, dass im universitären Kontext häufig informell gelernt wird oder dies gar Teil einer ganzen Lehr-/Lernkultur geworden ist. Natürlich kann ein Treffen in der Mensa oder der Cafeteria, verbunden mit der Kommunikation zwischen Studierenden, sehr produktiv für einen Zuwachs an Wissen 'en passant' (beiläufig) sein. Doch es gibt andere und bessere Beispiele, wie im Hochschulkontext informell, z.B. durch Nutzung von „Open-Sources“ gelernt wird. Hierzu gehört etwa die studentische Initiative w.e.b.Square.
Das Portal w.e.b.Square an der Professur für Medienpädagogik der Universität Augsburg ist ein offenes Portal von Studierenden für Studierende. Es wurde dafür konzipiert, dass sich Studierende bereits während des Studiums über Wissensinhalte und -produkte austauschen. Der Inhalt dieses Portals besteht ausschließlich aus Arbeiten und Erzeugnissen von Studierenden. So finden sich dort Hausarbeiten, Abschlussarbeiten oder Artikel, die von Studierenden verfasst wurden und für andere Kommilitonen frei zugänglich sind. Für die Auswahl der Inhalte und die Weiterentwicklung ist ein studentisches Redaktionsteam, unter der Leitung eines wissenschaftlichen Mitarbeiters der Medienpädagogik, verantwortlich. Die technische Grundlage bildet das Open-Source-System Drupal. Das Redaktionsteam w.e.b.Square, welches auch Bestandteil des Begleitstudiums Problemlösekompetenz für den Augsburger Studiengang Medien und Kommunikation ist, versucht die Kommilitonen davon zu überzeugen, ihre Abschlussarbeiten oder Hausarbeiten über dieses Portal für andere Studenten frei zugänglich zu machen. Erst dadurch erfüllt dieses Portal seinen Zweck, nämlich den wissenschaftlichen Austausch zwischen Studierenden.
Das Projekt w.e.b.Square erfüllt dabei alle Kriterien an eine offene Bildungsressource, wie sie von Zauchner und Baumgartner (2007) formuliert werden: Ziele und Zielgruppen, Finanzierung, Qualitätssicherung und technische und rechtliche Voraussetzungen. Ziel ist die Kompetenzentwicklung der Studierenden und die Förderung des Wissensaustauschs, wobei die Studierenden gleichzeitig Produzenten und Konsumenten der Inhalte sind. Die Qualität der Inhalte wird durch das Redaktionsteam sowie durch Lehrende gesichert. Die technische Voraussetzung ist durch das Open-Source-System Drupal gegeben. Allerdings ist dieses Portal ohne finanzielle Unterstützung entstanden, was bei Open-Educational-Ressources seltener der Fall ist. w.e.b.Square setzt auf die Freiwilligkeit und in gewissem Sinne auch auf das Engagement der Mitarbeit durch die Studierenden.
Ein Projekt wie w.e.b.Square würde an der Universität kaum funktionieren, wenn das dahinter stehende didaktische Konzept nicht seine Anbindung an den Hochschulkontext ermöglichen würde. Eine wesentliche Brücke stellt das Begleitstudium Problemlösekompetenz dar, welches abschließend als herausragendes Beispiel für die Förderung informellen Lernens im Hochschulkontext dargestellt werden soll. Das Begleitstudium Problemlösekompetenz will durch Projektarbeit wissenschaftliche, praktische und soziale Kompetenzen bei Studierenden fördern, welche im herkömmlichen Studium oft zu kurz kommen.
Man könnte nun sagen: „Gut, das Begleitstudium fördert zwar Kompetenzen der Studierenden und leistet einen großen Beitrag zum informellen Lernen, doch wo ist hier die Einbindung in den Hochschulkontext? Und wo werden Verbindungen zum Fachstudium gezogen?“ Diese Fragen lassen sich aber sehr leicht beantworten, wenn man weiß, dass das Begleitstudium Problemlösekompetenz in einer so genannten co-curricularen Verbindung zum Fachstudium Medien und Kommunikation an der Universität Augsburg steht. In jedem Projekt, das ein Studierender im Rahmen des Begleitstudiums absolviert, wird vom Projektleiter vorher festgelegt, welche Leistungen jeder Teilnehmer zu erbringen hat, wobei der Projektleiter die einzelnen Leistungen in die verschiedenen Bereiche, also soziales, wissenschaftliches oder praktisches Problemlösen, einordnen muss. Am Ende des Begleitstudiums müssen alle drei Bereiche vom Studierenden abgedeckt sein. Die Leistungsbeurteilung geschieht dabei nicht durch den Projektleiter, sondern durch die Studierenden selbst. Diese müssen ihre gemachten Erfahrungen aus den jeweiligen Projekten entweder schriftlich oder in Form eines Video- oder Audioformats festhalten, um ihre Reflexion mit anderen Studierenden austauschen zu können. Die Erfahrungen und der Erwerb neuer Kompetenzen werden also in Form eines Weblogs in einem E-Portfolio festgehalten. Da man für jeden der drei Bausteine im Begleitstudium etwa 180 Arbeitsstunden aufwenden muss, was im neuen Bachelor-/Mastersystem acht Leistungspunkten entspricht, kann man folglich 24 Leistungspunkte im Begleitstudium erreichen. Die Hälfte dieser Punkte kann jeder Studierende in sein Fachstudium Medien und Kommunikation einbringen. Diese Leistungen werden vom Projektleiter bewertet und benotet. Dadurch wird die enge Verbindung zwischen dem Begleitstudium Problemlösekompetenz, welches informelles Lernen in großem Maße fördert, und dem eigentlichen Fachstudium an der Universität gewährleistet. Am Ende bekommen alle Teilnehmer des Begleitstudiums zudem ein Zertifikat des Instituts für Medien und Bildungstechnologie ausgehändigt, in dem ihnen Schlüsselkompetenzen in den verschiedenen Bereichen attestiert werden. Nach Sporer (2007, S. 89) wird ein solches Zertifikat nicht produziert, um es danach wegzulegen, sondern kann sowohl für Praxis und Forschung als auch bei Bewerbungen und dem zukünftigen beruflichen Werdegang ein großes Plus sein. Solange formales Lernen und damit einhergehend formale Qualifikationen in der Arbeitswelt große Anerkennung erfahren, knüpft ein derartiges Zertifikat zudem an die Erwartungen von Arbeitgebern an den Bewerber an. Abgesehen davon wird an dieser Stelle nicht die Forderung erhoben, ausschließlich informell zu lernen. Dies ist allein aus Zeitgründen in Zeiten von Bologna kaum möglich und macht gerade in unbekannten Kontexten nur begrenzt Sinn.