Speicher, M. (2011). Studierende und das Web 2.0: Warum viel Potential ungenutzt bleibt und wie dies geändert werden könnte. w.e.b.Square, 04/2011. URL: http://websquare.imb-uni-augsburg.de/2011-04/2.
"Web 2.0" (O'Reilly, 2005) ist wohl eines der am häufigsten verwendeten Schlagworte des bisherigen 21. Jahrhunderts. Das damit benannte Konzept umfasst eine Vielzahl von Tools und Technologien, mit denen diese Tools (oder "Rich Internet Applications", d. h. Webseiten, die sich wie ein "normales" Computerprogramm anfühlen) implementiert werden können. Aber das Web 2.0 ist nicht eine bloße Sammlung von Informatikerspielereien, sondern definiert sich vor allem über Partizipation und Kollaboration. Denn welchen Wert hätten schon Linksharing-Dienste wie Delicious1, wenn niemand dort seine Bookmarks speichern würde? Wer würde Wikipedia2 lesen, gäbe es keine Artikel? Und was würde Wordpress3 machen, wenn niemand Beiträge für ein Blog schriebe? Im Rahmen meiner Bachelor-Arbeit (Speicher, 2010) an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen (RWTH) habe ich mich im letzten Jahr intensiv mit sogenannten "Personal Learning Environments" (PLE) auseinandergesetzt, die nichts anderes sind als die Gesamtheit aller Anwendungen, die ein Student für seine Lernprozesse verwendet. Dies umfasst somit auch alle Web-2.0-Tools, mit denen gelernt wird - sei es Google Docs4, um zusammen mit Kommilitonen eine Hausarbeit anzufertigen oder die Seminararbeit, die als Wikipedia-Artikel verfasst wird. So hatte ich die Möglichkeit, detailliert zu untersuchen, was Studierende über diese Tools denken, welche Tools sie benutzen und wie sie diese zur Zusammenarbeit einsetzen.
Um zu Beginn meiner Bachelor-Arbeit den Status Quo der Nutzung von PLEs zu ermitteln, wurden im März 2010 persönliche, qualitative Interviews mit 20 Studierenden durchgeführt. Diese Interviews gaben einen Hinweis darauf, dass die im Kontext des Web 2.0 üblicherweise verwendeten Tools nicht sehr verbreitet waren. So wurde Twitter5 bei der Frage nach Linksharing-Tools nur einmal erwähnt und auch Google Docs wurde als Anwendung zur Kollaboration mit Kommilitonen nur von zwei Studierenden genannt. Stattdessen verwendeten 17 Befragte E-Mail oder Instant-Messaging-Dienste wie ICQ6, um Links mit anderen zu teilen, und auch zur Zusammenarbeit griffen 14 der 20 Studierenden auf diese Kommunikationsmittel zurück. Allerdings sind E-Mail und Instant Messaging - im Gegensatz zu entsprechenden Web-2.0-Tools - nie auf effiziente Kollaboration oder Verwaltung gemeinsamer Ressourcen ausgerichtet gewesen. Während man z. B. zur gemeinsamen Bearbeitung eines Word-Dokumentes mithilfe von E-Mail etliche Nachrichten mit verschiedenen Versionen des Dokumentes hin- und hersenden und diese wieder manuell zusammenfügen muss, kann man bei Google Docs mit mehreren Nutzern in Echtzeit auf derselben Kopie eines Dokumentes arbeiten. Warum also tendiert der Großteil der Studierenden zum ineffizienteren Weg? Hier kann vermutet werden, dass viele der Befragten die entsprechenden Web-2.0-Tools oder deren Potential nicht kannten. Allerdings nannte ein Studierender die Nutzung von Twitter als Verbesserungsvorschlag für effizienteres Linksharing, während zwei weitere angaben, sie würden gerne Google Docs zur effizienteren kollaborativen Arbeit nutzen. Dies wiederum legt nahe, dass manche Dienste zwar bekannt sind, aber von den Studierenden nicht genutzt werden, da die Einstiegsbarrieren als zu hoch empfunden werden und infolgedessen auf Vertrautes zurückgegriffen wird. Auch kann eine geringe Verbreitung unter den Mitstudierenden dazu führen, dass Tools mehr oder weniger zur Kollaboration unbrauchbar sind und daher nicht genutzt werden. Diese Vermutung wird gestützt von meinen Erfahrungen mit Google Wave7, einem Tool, bei dem mehrere Nutzer mithilfe von "waves" (die sowohl geteilte Dokumente als auch forumsähnliche Konversationen darstellen) in Echtzeit kommunizieren und kollaborieren können8. Da meine Bachelor-Arbeit vor allem die Eignung von Google Wave zur Integration verschiedener PLE-Komponenten in eine einzelne Plattform behandelt, habe ich Nutzerstudien mit einem exemplarischen, in Wave integrierten PLE durchgeführt. U. a. mussten 6 Teilnehmer in einer qualitativen Evaluation des Prototyps vorgegebene, für das Web 2.0 typische Aufgaben wie das Hochladen eines Videos oder das Teilen eines Links mit anderen Nutzern durchführen. Die Reaktionen waren fast durchweg positiv. Alle Teilnehmer des User-Tests konnten die gestellten Aufgaben lösen. Zwei Teilnehmer erwähnten explizit, dass das Tool intuitiv verständlich ist. Aber obwohl ich versucht habe, die Nutzung von Google Wave bei einigen Kommilitonen ein wenig zu forcieren, indem wir es probeweise zur Bearbeitung der wöchentlichen Hausaufgaben für eine Vorlesung verwendeten, ebbte die Aktivität meiner Mitstudierenden nach dem Ende des Semesters rapide ab. Auf Nachfrage erfuhr ich, dass der tatsächliche Nutzen der Features von Google Wave offensichtlich doch so gering war, dass meine Kommilitonen nicht das Gefühl hatten, das Tool würde wesentliche Vorteile gegenüber "herkömmlichen" Methoden der digitalen Zusammenarbeit besitzen. Dies ist zum einen wohl auf gewisse Unzulänglichkeiten im Design des User Interfaces (d. h. der Webseite, auf der ein Nutzer mit dem Tool arbeitet) zurückzuführen, die beim User-Test offensichtlich wurden und die die Benutzung von Wave teilweise sehr unübersichtlich machten, und zum anderen auf die Tatsache, dass die Anwendung schlicht und ergreifend nicht von genug potentiellen Kollaborateuren benutzt wurde. Im Gegensatz dazu setzte der Betreuer meiner Bachelor-Arbeit zur Kommunikation mit seinen Studierenden konsequent auf Google Wave, wodurch sich das Tool auch schnell unter den Diplomanden durchsetzte und über einen langen Zeitraum hinweg häufig und regelmäßig genutzt wurde. So entstanden unter anderem mehrere Artikel für eine Konferenz durch Zusammenarbeit in Google Wave. Und auch, wenn das Projekt "Google Wave" schließlich wegen mangelnden Erfolges von Google eingestellt wurde, zeigt sich hier, dass die Nutzung bestimmter Tools forciert werden kann und eventuell forciert werden muss, wenn man direkte und indirekte Netzwerkeffekte erzielen will, um resultierend daraus andere zur Partizipation anzuspornen.
Eine größer angelegte Studie unter 251 Studierenden der RWTH Aachen, die nach den Interviews durchgeführt und von Hendrik Thüs und Sascha Hoellger in ihren Diplomarbeiten (Thüs, 2010; Hoellger, 2010) analysiert wurde, bestätigte die bereits gewonnenen Eindrücke. Tools zur Kollaboration, wie z. B. Google Docs und Zoho9, aber auch SVN oder git10, waren 79 % der befragten Studierenden völlig unbekannt. Die einzige Ausnahme bildeten Wikis, die nur 38 % der Teilnehmer nicht kannten und von immerhin 26 % der Teilnehmer mindestens monatlich als Kollaborationstool benutzt wurden. Des Weiteren gaben die Studierenden an, von den verbleibenden durch das Web 2.0 bekannt gewordenen Anwendungen fast ausschließlich Social Networks aktiv und regelmäßig zu nutzen, dies aber vorwiegend, um neue Leute kennen zu lernen und mit Freunden in Kontakt zu bleiben. Zur Kollaboration mit Kommilitonen hingegen griff der Großteil der befragten Studierenden - wie schon bei den Interviews - auf wohlbekannte und heutzutage nur noch wenig innovative Mittel wie E-Mail und Instant Messaging zurück. Die Ergebnisse dieser Studie wurden auf der PLE Conference 2010 in Barcelona präsentiert. Dort bestätigten viele der Zuhörer, dass sie bei der Arbeit mit Studierenden dieselben oder ähnliche Erfahrungen gemacht hatten. An einen Kommentar von Dr. Su White von der Universität Southampton erinnere ich mich nach wie vor sehr gut: Sie erklärte, dass sie stets versuche, die Studierenden an neue, innovative Tools heranzuführen, indem sie deren Nutzung als Hausaufgabe stellt. So haben die Studierenden einen - wenn auch etwas unfreiwilligen - Anreiz, den Nutzen bestimmter Tools durch aktive Benutzung selbst herauszufinden. Da eine solche Hausaufgabe einer größeren Zahl von Studierenden gleichzeitig gestellt wird, besteht zudem eine Basis für direkte Netzwerkeffekte, was die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass die Tools auch nach Fertigstellung der Hausaufgaben weiterhin genutzt werden.
Dieses und das weiter oben beschriebene Beispiel der Google Wave nutzenden Diplomanden zeigen, dass es notwendig und möglich ist, Studierende zur Entdeckung und Nutzung innovativer Tools zu ermutigen, da nur so eine breitere Masse das Potential der Tools erkennen kann und sich von "altmodischen", ineffizienteren Wegen der Kommunikation und Zusammenarbeit fortbewegt. Die durch Interviews und Studien aufgezeigten Fakten verdeutlichen aber auch, dass dies offensichtlich noch nicht in größerem Umfang geschieht. Selbstverständlich muss man hier bei den Lehrenden differenzieren, da man in der Informatik (und Informatik-nahen Fächern) potentiell eine bessere Kenntnis der neuesten Trends haben dürfte. Dennoch sind solch grundlegende Tools wie Google Docs oder Wikipedia einer breiten Masse bekannt und zugänglich und sollten vom Großteil der Lehrenden für die Arbeit mit Studierenden ohne größeren Aufwand verwendet werden können. Und trotzdem: selbst ich als Student der Informatik - einem modernen Fach mit viel Potential für Innovationen -, kann mich nach acht Studiensemestern an kaum eine Vorlesung erinnern, die wirklich interaktiv war oder die Studierenden zur Nutzung neuartiger Tools angeregt hat. Es gibt mittlerweile mehrere Anwendungen, mit denen sich auf einfache Art und Weise Live-Feedback-Systeme wie die sogenannten "Twitter Walls" realisieren lassen und die schon seit geraumer Zeit mit Erfolg auf verschiedenen Konferenzen eingesetzt werden. Warum habe ich ein solches System noch nie bei einer Vorlesung gesehen? Zumal ohnehin neben dem Professor meist ein wissenschaftlicher Mitarbeiter oder Doktorand anwesend ist, der sich dessen annehmen könnte. Warum lässt man die Studierenden nach wie vor meist nur passiv konsumieren, wenn sie durch die Möglichkeiten des Web 2.0 und seiner Tools auch wirklich interaktiv an einer Vorlesung teilhaben könnten?
Natürlich mögen sich die im letzten Jahr erhobenen Daten durch die zunehmende Popularisierung von Facebook11, Twitter oder neuerdings auch Google+12 durch die Medien verändert haben, was ich persönlich z. B. durch ein gesteigertes Interesse an Web-2.0-Diensten in meinem Freundeskreis und eine daraus resultierende regere Partizipation bemerke. Aber es liegt zu einem guten Teil auch in der Verantwortung der Lehrenden, das Potential dieser Tools bei der Arbeit mit Studierenden auszuschöpfen. Denn so könnten Veranstaltungen an Universitäten nicht nur interaktiver und für die Zuhörerschaft attraktiver gestaltet werden, sondern die Lernenden könnten auch eine bessere Vorstellung davon bekommen, ob bestimmte Tools für sie einen Mehrwert bringen. Sicher weisen viele der Anwendungen im Web 2.0 noch Mängel auf oder erfordern etwas Übung (und sind bestimmt nicht pauschal die richtige Lösung für jeden Lernenden), aber mit manchen ließe es sich für den einen oder anderen bestimmt effizienter, effektiver und somit erfolgreicher studieren - es muss nur ausprobiert werden.
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7 http://wave.google.com/
8 Für eine genaue Beschreibung, die den Rahmen dieses Artikels sprengen würde, siehe http://youtu.be/p6pgxLaDdQw (abgerufen am 28. August 2011).
9 http://www.zoho.com/ Erstellen und Bearbeiten von Office-Dokumenten im Web (insbesondere in Zusammenarbeit mit anderen Nutzern). Ähnlich Google Docs.
10 Beides genutzt zur automatischen Versionsverwaltung gemeinsamer Dokumente, wobei jede Bearbeitung eine neue Version darstellt.
12 http://plus.google.com/ Soziales Netzwerk zum Teilen von Informationen und zur Kollaboration mit selbst definierten Gruppen von Nutzern (sogenannte "Circles"). Basiert zum Teil auf Google Wave (z. B. Einbinden von Office-Dokumenten).