Opitz, E. (2007). Wenn Forschung zum Abenteuer wird: Wissensvermittlung im Fernsehen. w.e.b.Square, 03/2007. URL: http://websquare.imb-uni-augsburg.de/2007-03/7.
Wissenschaftssendungen erleben einen enormen Boom: „Living History“, Infotainment, „Science-Shows“. Immer aufwendigere und spektakulärere Wissensformate bringt das deutsche Fernsehen hervor. Der Lehrfilm von einst musste populärer werden, um für ein breites Publikum attraktiv zu bleiben. Und die Möglichkeiten mit Wissenschaft zu unterhalten scheinen noch lange nicht erschöpft zu sein.
Viele von uns kennen sie noch aus früher Schulzeit: Die alten Filme des "Instituts für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht (FWU)" oder des "Instituts für den wissenschaftlichen Film (IWF)" (heute "Institut für Wissen und Medien"). Dazu die großen Rollen, auf denen sie aufgewickelt waren, und das gleichmäßige Rattern des Projektors im Hintergrund. So fand der Wissenschaftsfilm Einzug in Schulen und Unterricht. Er sollte gezielt veranschaulichen und erklären, sollte dort ansetzen, wo Tafelbilder und Bücher zu kurz griffen. Mitte der 1950er Jahre trat das Fernsehen seinen Siegeszug an. Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten kamen ihrem Informations- und Bildungsauftrag nach. Fernsehen machte es möglich nun auch der allgemeinen Öffentlichkeit Wissen und Wissenschaft zu vermitteln. Durch technische Möglichkeiten wie Zeitraffer, Zeitlupe oder Trickaufnahmen werden verborgene, komplexe, schwer zu beobachtende Prozesse sichtbar. Das Keimen einer Pflanze, die Flügelbewegungen eines Kolibris, physikalische und chemische Experimente – naturwissenschaftliche Phänomene können nun einem breiten Publikum verständlich gemacht werden. Der deutsche Physiker und Schriftsteller Heinz Haber beispielsweise produzierte in den 1960er und 1970er Jahren zahlreiche wissenschaftliche Dokumentarsendungen für ARD und ZDF und wurde Deutschlands erster „Fernseh-Professor“.
Doch abgesehen von Information und Bildung soll Fernsehen doch vor allem eines: unterhalten. Insbesondere gilt das für ein Publikum, das nicht schon von vorneherein an wissenschaftlichen Themen interessiert ist. Im Laufe der Zeit konnte der Rezipient zwischen immer mehr Sendern wählen. Gerade deshalb müssen die Programme heute mehr denn je für die breite Masse attraktiv sein. Die neuen Wissensformate sollen Spaß, sollen Lust auf Wissenschaft machen. Sie sollen dem Zuschauer ein Stück weit das Gefühl geben, er nutzt die Zeit des Fernsehens sinnvoll, weil er sich gleichzeitig bildet. Das haben die Produzenten erkannt. Wissensformate werden immer aufwendiger, populärer und vor allem spektakulärer. „Wissenschaft wurde zu Wissen, Forschung zum Abenteuer“ (Schneider 2005). Die Rechnung geht auf, Wissenschaftsprogramme im deutschen Fernsehen erleben einen unglaublichen Boom. Im Jahr 2005 füllten sie bereits rund 10,5 Stunden des täglichen Fernsehprogramms (vgl. ebd. 2005: S. 1). Je nach Schwerpunkt informieren sie über Produkte und deren Entstehung, erklären Alltagsphänomene oder berichten über Neues aus Wissenschaft, Natur, Technik, Medizin und Gesellschaft. Die „Sendung mit der Maus“ hat es einst vorgemacht.
Abbildungen: Fernseh-Experimente "Das Schwarzwaldhaus 1902" und "Abenteuer 1900 - Leben im Gutshaus"
Der Trend geht hin zu regelrechten Wissenschafts-Dokumentationen aus neu aufbereitetem Archivmaterial, man denke nur an Sendungen wie ZDF-History. Manchmal vermischen sich Realität, Fiktion und Spekulation. Immer aufwendiger kommen Computeranimationen, nachgestellte Szenen oder Personalisierungen zum Einsatz. Auf der Suche nach Antworten auf wissenschaftliche Fragen stehen Geschichten um menschliche Schicksale im Mittelpunkt. Gerne wird die Wissenschaft auch um ihrer selbst willen von den Sendern inszeniert. In großen spielfilmähnlichen „Fernseh-Experimenten“, zum Beispiel den Serien „Schwarzwaldhaus 1902“, „Abenteuer 1900 – Leben im Gutshaus“ oder „Windstärke 8“ leben Familien für die Kamera wie in vergangenen Tagen. Die Zeitreisenden erfahren „live“, wie ein Leben ohne fließendes Wasser, ohne Strom, ohne Telefon oder Fernsehen aussieht. Die Zuschauer lernen „nebenbei“ den Alltag, die Bräuche, Regeln und Probleme der Menschen von damals kennen. „Geschichte und Wissenschaft verschmelzen“ (Schneider 2005) – „Living History“ heißt das neue Format. Wolfgang Landgräber, Redakteur und Leiter der Programmgruppe Gesellschaft/ Dokumentation des WDR, nennt Gründe für die Beliebtheit zeitgeschichtlicher Dokumentationen im deutschen Fernsehen:
„Die meisten Zuschauer in Deutschland kennen die Geschichte ihres Landes nur aus dem Schulunterricht. Vielfach erschöpfte der sich im Auswendiglernen geschichtlicher Jahreszahlen. Wir Programmmacher merken, dass es hier einen enormen Nachholbedarf gibt. Die Zuschauer möchten Geschichte miterleben. Das können wir ihnen auf zweierlei Weise bieten: indem wir spannende Geschichten aus der Historie als klassische Dokumentationen mit sparsam eingesetzten Inszenierungen erzählen oder indem wir es ermöglichen, Geschichte in Form einer Zeitreise hautnah mitzuerleben.“ (WDR 2005)
Auch die privaten Sender haben in den letzten Jahren die Wissensmagazine als Quotenbringer für sich entdeckt. Die Entwicklung hin zu mehr Infotainment ist hier noch deutlicher zu sehen als bei den öffentlich-rechtlichen Sendern. Galileo Mystery (ProSieben) beispielsweise versucht dem Wahrheitsgehalt von Legenden, Kathastrophenszenarien aus Spielfilmen oder anderen Geheimnissen der Menschheit auf den Grund zu gehen: „Wie sieht das Jenseits aus?“ Gibt es Zombies? Drohen uns Mega-Tsunamis oder Magnetstürme? Wie war Robin Hood wirklich? Nicht selten enthalten die einzelnen Beiträge wenig neue Erkenntnisse und können offensichtlich keine endgültigen Antworten geben. Doch inszenierte Expertengespräche, angebliche Originalschauplätze und aufwendige Videoeffekte zusammen mit spannungsgeladener Musik sollen dem Ganzen Glaubwürdigkeit und Lebendigkeit verleihen. „Wissens-Vermittlung im Fernsehen ist kein Trend, sondern ein Grundbedürfnis“, so Hendrik Hey, Produzent und Moderator von „Welt der Wunder“ (ProSieben) (Hey 2006, in: 18. medienforum.nrw 2006). Information dürfe durchaus auf unterhaltsame Weise präsentiert werden, anders sei die große Masse des Publikums nicht zu erreichen. „Das wissen auch die Wissenschaftler. [...]“, so Hey weiter (ebd.). Auch Siegmund Grewenig, Leiter der Programmgruppe Kinder und Familie des WDR, ist sich sicher, dass die große Nachfrage zu weiteren Formaten und Genres führen wird. Er spricht von einem „Sog nach Bildung“ in Deutschland nach dem „Pisa-Schock“, den sich das Wissens-TV zunutze mache (ebd.).
Eine andere Art unterhaltender Bildung sind die zahlreichen Quiz- und Wissensshows. Ob es nun der viel kopierte Klassiker „Wer wird Millionär?“(RTL) mit Günther Jauch, Jörg Pilawa im Ersten („Das Quiz“) oder neuerdings Cordula Stratmann mit „Das weiß doch jedes Kind“ (Sat.1) ist. Überall wird Wissen abgefragt. „Science-Shows“ wie „CLEVER – Die Show, die Wissen schafft“ (Sat.1) gehen zusammen mit prominenten Gästen Alltagsrätseln nach und geben mit Studio-Experimenten Antwort. Der Zuschauer kann aktiv fernsehen, zuhause vor dem Bildschirm mitraten und sich testen. Medienkritiker wie Hans Hoff, Geschäftsführer des Pressebüros hahotext, stehen dem flüchtigen Bildungsfernsehen kritisch gegenüber: „Am Ende sind die Zuschauer genauso schlau wie vorher. [...] Niemand braucht das, was dort vermittelt wird.“ Programmanbietern gehe es in erster Linie um kostengünstige, publikumswirksame Sendungen. Am Ende folgt dem „Rausch des Erfahrens“ nur selten der „Kater des Wissens“ (Hoff 2006, in: 18. medienforum.nrw 2006). In der Tat bleibt der Kommunikationsweg des Fernsehens einseitig. Der Lernende bleibt sich selbst überlassen, direkt Rückfragen stellen kann er nicht (Grewenig 2004). Zudem „ist kaum Platz für individuelle Differenzierungen“ (Dörr 1997), was dazu führt, dass eine „Sendung für einen erheblichen Teil der Zuschauer zu anspruchslos oder zu anspruchsvoll ist“ (ebd.). Dennoch, Wissens-Fernsehen kann begeistern, neugierig machen, kann die Lust aufs Weiterlernen wecken. Die Flüchtigkeit seiner Angebote überwindet das Fernsehen durch Zusatzangebote im Internet. Die Herausforderung wird sein, immer wieder wirklich Neues zu entwickeln, was die Zuschauer begeistert.