Strobel, A. (2009). "Sorry, aber ich habe keine Zeit" - Mangelnde Bereitschaft zum Wissensaustausch unter Studierenden oder die Wahrheit? w.e.b.Square, 01/2009. URL: http://websquare.imb-uni-augsburg.de/2009-01/3
Dass OER (Open Education Resources) ohne die Bereitschaft zu teilen nicht funktionieren können, klingt einleuchtend. Doch warum fehlt der Einsatz durch Studierende? Was hält sie davon ab, sich gegenseitig das Studium zu erleichtern? Welche Folgen ergeben sich daraus? Was kann man möglicherweise dagegen tun? Dies sind Fragen, die sich bereits zahlreiche Wissenschaftler gestellt haben. Schließlich betreffen sie Studierende immer mehr.
„Hey Franzi, hast Du Deine Bachelor-Arbeit schon ins Netz gestellt? Mich haben bereits ein paar Leute gefragt, wie so eine Arbeit gegliedert sein soll. Da hab ich gleich an Dein „Werk“ gedacht und gemeint, sie könnten sich das ja mal anschauen“ – meint Bernd. „Nein, tut mir leid. Hatte bisher keine Zeit dazu. Vielleicht denk ich später dran“ – sagt Franzi und wendet sich ab. Dies ist eine der Antworten, die Bernd des Öfteren hört. Und das, obwohl gerade im Sinne von OER das Teilen eine große Rolle spielt. Im Allgemeinen sind OER-Initiativen äußerst sinnvoll. Den Nutzen haben bereits viele Hochschulen erkannt, die derartige Initiativen einführen. Doch auch für Studierende sollten verschiedene Gründe ausschlaggebend sein, sich zu beteiligen. Einerseits können OER-Projekte in das reguläre Studium eingebunden werden. Des Weiteren kann ein „Bezug zu Prüfungselementen“ (Zauchner & Baumgartner, 2007, S. 6) hergestellt und die Ergebnisse ebenfalls für formale Qualifikationen angerechnet werden, da eine gewisse „ECTS-Kompatibilität“ (ebd., 2007, S. 6) vorhanden ist. Die wichtigsten Gründe sollten allerdings die soziale Anerkennung sowie andere mögliche Vorteile für den eigenen Werdegang sein (Sporer & Jenert, 2008, S. 44).
Die oben genannten positiven Auswirkungen sind den Zielen von OER-Initiativen sehr ähnlich. Der Grundgedanke ist die freie Verfügbarkeit von Inhalten und Produkten. Daneben spielt aber die Partizipation eine ebenso bedeutende Rolle. Sporer und Jenert (2008, S. 40) sprechen in diesem Sinne davon, dass Studierende eine Rolle als aktive Mitgestalter einnehmen. Sie fungieren als „potenzielle Innovatorinnen und Innovatoren in einem offenen Bildungsraum“ (ebd., 2008, S. 40). Anders ausgedrückt zielt Open Education darauf ab, Lernende und Lehrende nicht mehr nur Wissen vermitteln zu lassen. Sie sollen vielmehr ihre eigene Lernumgebung gestalten. Wichtig ist hierbei, dass eine „offene Bildungskultur“ (ebd., 2008, S. 40) angestrebt wird. Lehr-/Lernmaterialien werden mehr als „nur“ bereitgestellt (vgl. ebd., 2008, S. 40). Auch Zauchner und Baumgartner (2007, S. 3) vertreten diese Meinung. Ihrer Ansicht nach ist das Ziel von OER, Bildungsressourcen zu einer kollaborativen Nutzung zur Verfügung zu stellen. Sie sollen für eigene Lehr-/Lernzwecke adaptiert, weiterentwickelt und letzten Endes wieder für die Allgemeinheit frei zur Verfügung gestellt werden (ebd., S. 2007, S.3). Auch Bernd ist sich dessen bewusst und versteht das Verhalten seiner Kommilitonen nicht. Eigentlich sollten sie im Sinne von Open Education praktisch an der Bereitstellung von Bildungsprodukten mitarbeiten und Bildungsinitiativen zu ihren Gunsten mitgestalten. Sie sollten Bereitschaft zeigen, eigene Produkte zu erstellen und diese anderen zur Verfügung stellen. Schließlich sollten Studierende die Freiheit nutzen, das Lernen selbst zu gestalten und sich ernsthaft engagieren (Sporer & Jenert, 2008, S. 48). Auch die Chance sogenannter Praxisgemeinschaften sollte wahrgenommen werden. Denn neben den Möglichkeiten des Fachstudiums sind diese bedeutende Lernorte, „wenn es um Selbstbildung und darum geht, sich für die Arbeits- und Berufswelt zu qualifizieren.“ (Reinmann, Sporer & Vohle, 2007, S. 277).
Die Ansichten von Bernd vertreten leider nicht alle Studierenden. Wissensteilung untereinander ist immer noch nicht selbstverständlich, obwohl besonders im Zeitalter von Web 2.0 verstärkt digitale Technologien eingesetzt werden, die dies erleichtern würden. Ebenso wird die Tatsache, dass „Austausch und kooperatives Problemlösen […] zu den Zielen eines wissenschaftlichen Studiums gehören“ (Hofhues, Reinmann & Wagensommer, 2008, S.28) vernachlässigt. Eigentlich müssten die heutigen 20- bis 25-jährigen „digital natives“ kommunikativ sowie kollaborativ sein und eine gewisse „Kommunikations- und Kooperationskultur“ (ebd., 2008, S. 29) besitzen. Wie man am Beispiel von Bernd erkennen kann, ist dies im Moment nur eine Wunschvorstellung. Fakt ist, dass die Bereitschaft zum Wissensaustausch zwischen Studierenden gering ausgeprägt ist. Demnach erfolgt beispielsweise die Teilung von Ideen, das Lernen von den Leistungen anderer sowie das zur Verfügung stellen eigener Ergebnisse und Produkte für seine Kommilitonen bzw. Kommilitoninnen zum Weiterdenken und -arbeiten nur sehr selten. Die Universität ist vielmehr durch Konkurrenzdruck oder ähnliches gekennzeichnet (ebd., 2008, S. 29).
„Hey, was hast Du denn für eine Note in der Klausur?“ oder „Wie hast Du in deiner Abschlussarbeit abgeschnitten?“ sind typische Fragen, die den zunehmenden Wettbewerb unter den Studierenden verdeutlichen. Bernd wurde so etwas auch schon oft gefragt und wusste nicht so recht, was er darauf antworten sollte. „Soll ich ihnen die Wahrheit sagen, oder soll ich ihnen vortäuschen schlechter gewesen zu sein, um nicht einer ihrer ärgsten Rivalen zu werden?“ – ist dann sein typischer Gedanke. Er hat schon mitbekommen, dass gute Leistungen oft dazu führen, ausgeschlossen oder gar ausgenutzt zu werden. Doch warum ist das so? Warum zählen Leistungen mehr wie Kooperation und Kollaboration? Gerne würde Bernd sich mit anderen austauschen und von ihren Meinungen sowie ihrem Wissen profitieren. Er wäre auch bereit, seine Kenntnisse anderen zur Verfügung zu stellen. Natürlich gibt es ein paar Kommilitonen, mit denen Bernd seine Ideen teilen kann und die auch ihm Einblick in ihre Gedanken gewähren. Doch warum sind nicht alle so? Laut Hofhues et al. (2008, S. 29) ist der Konkurrenzdruck sowie der dadurch entstehende -kampf vor allem in den relativ neuen Bachelor- und Masterstudiengängen zu bemerken. Dort findet man Formen des Assessments, die besonders darauf ausgerichtet sind zu selektieren, um am Ende die Besten präsentieren zu können (vgl. Reinmann, 2007). Dies zeigt sich unter anderem daran, dass im Rahmen des Credit-Point-Systems jede einzelne Note, also jedes Referat, jede Seminararbeit und jede noch so kleine Leistung benotet wird. Kurz gesagt, es existiert ein erhöhtes Prüfungsaufkommen (Reinmann et al., 2007, S. 266). Dies erfordert ein stärkeres persönliches Effizienzdenken (Reinmann, 2007, S. 15). Die Betonung liegt hierbei auf „persönlich“. Studierende versuchen in allen Prüfungen gut abzuschneiden, um auf dem Arbeitsmarkt höhere Chancen zu haben (Reinmann et al., 2007, S. 266). Da bleibt keine Zeit mehr dafür, sich beispielsweise in Projektgruppen zu engagieren oder sein Wissen mit anderen zu teilen. Alle Anforderungen und die zur Verfügung stehenden Ressourcen müssen effizient aufeinander abgestimmt und genutzt werden, um die vielen Inhalte derartiger Studiengänge in der Knappheit der Zeit unterzubringen. Viel wichtiger ist ein „individualökonomische[s] Kalkül, nach dem vor allem solche Leistungen erbracht werden, die im Credit-Point-Konto des Fachstudiums verlangt sind“ (Reinmann et al., 2007, S. 265). Was durch diese „persönliche Ökonomisierung“ (ebd. et al., 2007, S. 265) auf der Strecke zu bleiben scheint, sind Kompetenzen, die eine weitaus wichtigere Rolle spielen sollten: individuelles und soziales Engagement, Kollaboration und Kooperation.
„Ich sehe mein Studium als eine Chance mich persönlich zu entwickeln.“ oder „Mein Studium soll mir gewisse Kompetenzen vermitteln, durch die ich meine sozialen Fähigkeiten weiterentwickeln kann. Für mich sind Zusammenarbeit und Wissensaustausch besonders wichtig.“ Dies sind Antworten, die wenige Studierende geben würden, wenn man sie danach fragen würde, worin sie den Sinn ihres Studiums sehen. Die Antwort würde eher folgende sein: „Das Studium soll mich gut und stringent auf das berufliche Leben vorbereiten, und das ohne Umwege“ (Reinmann, 2007, S. 10). Diese Ansicht haben auch die Ergebnisse der HIS-Studie (Müßig-Trapp & Willige, 2006) vom Sommer 2006 bestätigt. Demnach betrachtet ein Großteil der 3000 befragten Studierenden „das Studium als eine Phase der Entscheidung, in der die Weichen für das spätere Leben gestellt werden.“ (Reinmann, 2007, S. 8). Auch Bernd teilt diese Meinung über seine Kommilitonen. „Ich glaube, in der heutigen Zeit wird eher Wert darauf gelegt, dass man einen guten Abschluss hat, als dass man sich in Gemeinschaften organisiert und voneinander profitieren kann.“
Natürlich bleiben die negativen Folgen mangelnder Bereitschaft zum Austausch von Wissen nicht unbemerkt. Das typische Szenario einer Universität, in dem Studierende an selbst ausgewählten Projekten arbeiten, Engagement in Fachschaften zeigen, eigene Studien durchführen oder Produkte erstellen, findet immer weniger statt. Dadurch können Vorteile dieser so genannten „Communities of Practice“ nicht genutzt werden. Besonders „selbstbestimmtes, kollaboratives und phänomenbezogenes Lernen“ (Reinmann et al., 2007, S. 268) bleibt dabei auf der Strecke. Doch genau diese Lernform würde die Inhalte des regulären Studiums verständlicher und anschaulicher machen. Ebenfalls verzichtet wird darauf, kollaborativ zu sein und gemeinsam Ziele und Interessen auszubilden. Studierende könnten in Praxisgemeinschaften weitgehend selbstbestimmt konkrete Erkenntnisse gewinnen und Praxiserfahrungen sammeln. Sie könnten gemeinsam Probleme lösen, wodurch wiederum neues Wissen für die Allgemeinheit konstruiert werden würde (ebd., S. 270). „Gerade das ist es doch, was Studierende immer fordern!“ – denkt sich Bernd. Er versteht es nicht, dass sich seine Kommilitonen immer wieder darüber beschweren, dass die Universität zu Theorie-lastig ist und man nicht einmal etwas Praktisches machen kann, sich dann aber nicht an Praxisgemeinschaften beteiligen. Gerade dort kann man doch seine Kreativität und seine Ideen einbringen. Zudem kann man sich auf eine viel angenehmere Weise Wissen und Kompetenzen aneignen. „Was ist daran falsch voneinander, von den Ideen und den Kenntnissen anderer, zu profitieren?“ – ist das, was Bernd in den Kopf schießt. In der Tat stellt die fehlende Bereitschaft Studierender, sich zu engagieren und selbst als Produzenten und Entwickler von Wissensprodukten zu fungieren, ein großes Problem dar. Eigentlich angestrebte Fähigkeiten, wie wissenschaftliche, soziale und praktische Problemlösekompetenzen, werden zwar grundsätzlich angestrebt, aber aus Effizienzgründen immer weniger gelernt (Hofhues et al., 2008, S. 32). Hinzu kommt, dass es anderen oft verwehrt bleibt, sich an erstellten Wissensgütern zu orientieren und gegebenenfalls Hilfe zu holen. Denn oft kommt es vor – wie auch bei Bernd – dass man nicht mehr weiter weiß und dann frei zugängliche Bildungsressourcen hilfreich wären.
An den oben genannten Problemen, wie der geringen Ausbildung von Problemlösekompetenzen sowie dem Mangel an frei zugänglichen Wissensgütern, kann man eines erkennen: gegen die mangelnde Bereitschaft zur Wissensteilung muss etwas getan werden. Damit sich Studierende an offenen Bildungsinitiativen beteiligen können, muss man folgendes beachten: Studentische Initiativen haben „nur dann das Potenzial für didaktische Innovationen [...], wenn sowohl Kreativität und Engagement der Studierenden als auch förderliche organisationale Rahmenbedingungen zusammentreffen." (Sporer & Jenert, 2008, S.41). Deshalb müssen folgende Voraussetzungen gegeben sein:
Eine weitere Möglichkeit, um das Ziel der Wissensteilung zu erreichen, bietet die Anrechenbarkeit der Beteiligung für das reguläre Studium. Gerade in den Bachelor- und Masterstudiengängen spielt das Credit-Point-System – die Bewertbarkeit – eine große Rolle. Die Motivation Studierender sich in Projekten zu engagieren, wächst, wenn dieses Engagement zumindest teilweise durch Credit Points deutlich gemacht wird (Reinmann et al., 2007, S. 269). Eine Möglichkeit bietet hierbei das Begleitstudiumsangebot an der Universität Augsburg. Es gibt Studierenden des Studiengangs „Medien und Kommunikation“ die Gelegenheit in verschiedene Bereiche hineinzuschnuppern und selbst Produkte zu erstellen. Diese stehen wiederum anderen als Hilfsmittel zur Verfügung. Die Hälfte der erreichten Leistungspunkte können in das reguläre Studium eingebracht werden. Ein Beispiel ist die wissenschaftliche Online-Zeitschrift „w.e.b.Square“, die mit dem Slogan „von Studierenden für Studierende“ bereits das Wesentliche aussagt. Sehr gute, innerhalb des Studiums oder freiwillig erstellte Arbeiten werden ins Netz gestellt und stehen jedem zur Verfügung. Fragen, wie „Wie gestalte ich eine Hausarbeit?“ oder „Wie sieht das Inhaltsverzeichnis einer Abschlussarbeit aus?“ werden auf dieser Seite beantwortet. Und das mit Hilfe der Wissensgüter von Studierenden.
Vielen Studierenden geht es also wie Bernd. Doch ist es wirklich so schlimm, wie man es annehmen könnte? Existiert tatsächlich keine Bereitschaft mehr sich mit anderen Studierenden auszutauschen oder auf deren Hilfe zu hoffen? Bernd macht sich nun einen Gesamteindruck und stellt folgendes fest: „In Zeiten von Bologna gibt es einen weitaus strafferen Zeitplan als dies vorher der Fall war. Der typische Universitätsalltag, in dem man noch genügend Zeit zur Verfügung hatte, um sich in Fachschaften und dergleichen zu engagieren, muss einem straff organisierten Studium weichen. Da bleibt nicht mehr viel Zeit um selbst Lernmaterial für andere bereitzustellen. Meiner Meinung nach sollte es aber möglich sein, zumindest gelungene Arbeiten anderen verfügbar zu machen. Das Problem an der Sache ist, dass jede/r die/der Beste sein will. Die Hilfsbereitschaft kommt bei vielen Studierenden erst nach dem Ehrgeiz. Richtig schlimm wird es vor allem, wenn aufgrund des Konkurrenzdrucks nicht nur Wissensteilung auf der Strecke bleibt, sondern bewusst Wissen in anderer Form vorenthalten wird. Damit meine ich, dass es in manchen, sehr konkurrenzorientierten Studiengängen, vorkommt, dass Bibliotheksbücher versteckt oder prüfungsrelevante Seiten ausgerissen werden, um sich selbst einen Vorteil zu verschaffen. Natürlich ist mir so etwas nur zu Ohren gekommen. Dennoch ist es eine erschreckende Entwicklung. Irgendwie kann ich es verstehen, dass man bei der heutigen Arbeitsmarktlage versuchen muss gut zu sein. Aber bleiben dabei nicht viel wichtigere Kompetenzen auf der Strecke? Was ist mit den viel zitierten Schlagwörtern „Kooperation“, „Kollaboration“ und „soziales Engagement“? Natürlich ist es schwierig zu dem regulären Studium noch weiteren Tätigkeiten nachzugehen und Produkte zu erstellen, die Kommilitonen oder Kommilitoninnen helfen könnten. Doch was hält Studierende davon ab, bereits erstellte Wissensgüter für die Allgemeinheit zugänglich zu machen? Was man hierbei immer im Auge behalten sollte, ist, dass man nicht alle Studierenden über einen Kamm scheren darf. Es gibt solche und solche. Viele sind immer noch hilfsbereit und geben gerne ihre erstellten Wissensgüter weiter. Ich für meinen Teil kann zum Glück behaupten, dass bis jetzt alle Studierenden, mit denen ich zusammengearbeitet habe, hilfsbereit waren. Niemand hat die Nase gerümpft, wenn jemand darum gebeten hat, ihm „alte“ Wissensgüter zur Verfügung zu stellen. Auch wenn das nur eine Erfahrung unter tausenden ist, glaube ich, dass es nicht allzu schlimm ist. Solange man immer wieder Kommilitonen/-innen findet, die ohne Zögern zur Wissensteilung bereit sind, geht es. Und wer weiß, vielleicht wendet sich das Blatt wieder in Richtung kooperatives, kollaboratives und soziales Miteinander.“ – denkt sich Bernd und zieht los um sich mit Franzi in der Caféte zu treffen. Vielleicht gelingt es ihm ja sie davon zu überzeugen, künftig ihr Wissen mit anderen zu teilen…