Ott, P., Schaffer, K., Schuster, M. (2010). Ich weiß, was du gestern getan hast! Wie sich das soziale Zusammenleben durch soziale Netzwerke verändert hat. w.e.b.Square, 01/2010. URL: http://websquare.imb-uni-augsburg.de/2010-01/4.
Web 2.0 - plötzlich sind wir mittendrin, statt nur dabei. Wir plaudern, funken, bloggen und posten. Wir schließen Freundschaften und kommunizieren, treffen uns und lachen, tauschen Informationen, sind länger im Internet als irgendwo anders.
„Ich weiß was du gestern getan hast“ - Längst haben wir mehr Informationen als seinerzeit die Stasi: Daten, Fotos, Kommentare.
Bei all den Interaktionsmöglichkeiten im Netz fragt man sich: Sind soziale Kontakte im realen Leben überhaupt noch notwendig?
8. Mai 1980: Maria sitzt am Küchentisch und schreibt einen Brief. Es klingelt an der Tür. „Hallo Rudi, was für eine Überraschung! Schön, dass du so spontan vorbei kommst! Setz dich doch!“ „Danke, Maria! Und, erzähl, wie geht es dir? Was hast du gestern gemacht?“
8. Mai 2009: Wenn Clara nach Hause kommt, checkt sie zuerst ihre Mails bevor sie ihrer Familie „Hallo“ sagt. Ihr Handy ist griffbereit neben dem Laptop. Es piept, vibriert und klingelt: eine neue SMS, ein verpasster Anruf, zwei neue Freundschaftsanträge bei einer Online-Community, unzählige neue Twitter-Meldungen. „Reden, flirten, Freunde treffen“ (Titus, 2007), Clara hat viele Sozialkontakte – jedoch nur virtuell. „O-o“ – eine Nachricht von Fabian per Live Messenger: „Hallo Clara, wie geht es dir?“ „Gut und dir?“, tippt Clara in die Tasten und überlegt, was sie noch fragen könnte. Was Fabian gestern gemacht hat, weiß Clara, auch ohne nachzuhaken – dank seines aussagekräftigen Profils bei einer Online-Community. Fotos von seinem gestrigen Abend sind bereits online. Fünf Gästebucheinträge kommentieren das Geschehen. Sogar ein Video steht schon der breiten Öffentlichkeit zur Verfügung. Verabreden für heute Abend möchte sich Clara nicht. Sie bleibt lieber vor dem Computer und trifft sich mit ihren Freunden in Second Life. „Das ist viel bequemer.“
„Von einer ‚heimlichen Medienrevolution‘ ist die Rede, [von den] ‚umfassendsten kulturellen Veränderungen, die es auf diesem Planeten je gegeben hat‘ “ (Katzenbach 2008, S.17). Kommunikationswissenschaftler sprechen von einem „neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (Neuberger et al., 2006, zitiert nach Katzenbach 2008, S.17), der eine tiefgreifende Veränderung zu bisher da Gewesenem darstellt. Im Jahr 1969 wurde gleichsam der Startschuss zu dieser Revolution gegeben. Das amerikanische Verteidigungsministerium initiierte die Entwicklung mit dem Vorläufer des heutigen Internets, dem Arpanet (Kratzer, 2006, S. 7).
Seit 1997 untersucht die ARD-ZDF-Onlinestudie (van Eimeren & Frees, 2009) die Mediennutzung Erwachsener ab 14 Jahren in Deutschland. Die Veränderungen, die sich binnen weniger Jahre durch die Verbreitung des Internet vollzogen haben, sind enorm.
6,5 Prozent der Befragten geben 1997 an, das Internet gelegentlich zu nutzen. 2009 liegt der Wert bereits bei 67,1 Prozent. „Mit Ausnahme des Handys hat kaum eine andere Technologie eine derart schnelle Verbreitung erlebt“ (van Eimeren et al., 2002, zitiert nach Kratzer, 2006, S.12). Die Mehrzahl der Internetnutzer ist männlich. Die 14 bis 19-Jährigen machen heute mit einem Wert von 97,5 Prozent die aktivste Altersgruppe aus. Gefolgt von den 20 bis 29-Jährigen und den 30 bis 39-Jährigen. 136 Minuten verbringen alle Befragten 2009 durchschnittlich im Internet – und das täglich. Die Fülle der Anwendungen, die das Internet zu bieten hat, ist heute nahezu unüberschaubar. Von E-Mail-Kommunikation über Instant Messaging, Foren, Chats, Homebanking, Online-Spiele, Partnerbörsen bis hin zu Audio- oder Videopodcasts hat das Internet alles zu bieten. Die Nutzung von Suchmaschinen und die E-Mail-Kommunikation stehen unabhängig vom Alter an erster Stelle. 80 Prozent der 14 bis 19-Jährigen nutzten Instant Messaging, 78 Prozent Online-Communites, 76 Prozent derselben Altersgruppe halten sich in Gesprächsforen, Newsgroups oder Chats auf. Die Jugend von heute hat neue Kommunikationswege gefunden.
Stehen wir vor einer grundlegenden Umwälzung der zwischenmenschlichen Kommunikation? Wie genau verändert sich das soziale Zusammenleben durch soziale Netzwerke im Internet, die sich immer größerer Beliebtheit erfreuen?
„In ist, wer drin ist“ - und wie „in“ die heutige Jugend ist! Soziale Netzwerke boomen. Facebook, studiVZ, MySpace, Lokalisten, Xing etc. – die Liste der Online-Communities ist lang, die Anzahl der Mitglieder im mehrstelligen Millionenbereich – Tendenz steigend. Eine einheitliche Definition von sozialen Netzwerken gibt es nicht. Kantel (2009, S. 42) beschreibt diese Form des Miteinanders pragmatisch: „Social Networks sind Community-Seiten, auf denen man sich und seine Interessen präsentieren kann“. Sie sind ganz einfach Kommunikationsräume im Internet, in denen man Freunde und Bekannte trifft und neue Kontakte knüpft. Wer sich neu bei einem solchen sozialen Netzwerk registriert, erstellt in der Regel zuerst ein Profil von sich oder der Person, die er verkörpern möchte. „Die Mitglieder von Online Communities kommunizieren untereinander mittels integrierter Chats, Pinnwänden auf den Profilseiten oder persönlichen Nachrichten.“ (Bundesprüfstelle für Jugendgefährdende Medien, o.J.). StudiVZ ist ein Beispiel für ein soziales Online-Netzwerk. Es wurde im Herbst 2005 gegründet (Geil, 2007). Nur vier Jahre später knackt die Community die 6-Millionen-Marke und ist mit derart vielen Mitgliedern Deutschlands beliebteste Studentencommunity im Internet (o. A., 2009). Jeden Tag werden Freundschaften geschlossen, Nachrichten verschickt, Fotos online gestellt, angesehen, verlinkt und Community-Beiträge verfasst.
Um herauszufinden, wie sich Sozialkontakte durch Online-Communities im Internet verändern bzw. verändert haben, wurden mehrere Mitglieder von studiVZ unter anderem zu ihrer Nutzungsfrequenz der Community, etwaigen Motiven und den Auswirkungen auf das reale Leben befragt. Zehn männliche und zehn weibliche Studierende im Alter von 19 bis 24 Jahren nahmen an der Umfrage mit halbstandardisierten Fragebögen teil. 13 der Befragten besuchen studiVZ täglich, sechs zumindest mehrmals pro Woche. Doch welchen Tätigkeiten gehen die Studenten1 nach, wenn sie online sind? Ganz hoch im Kurs steht das Versenden von Nachrichten an Community-Mitglieder, das mehr als die Hälfte der Befragten wöchentlich tun. Jeweils sieben Studenten nutzen die Möglichkeit, wöchentlich oder monatlich nach Bekannten im Internet zu suchen oder in Profilen anderer Mitglieder zu stöbern. Sieben der befragten Personen recherchieren jeden Monat Informationen im Netz. Beiträge und Kommentare innerhalb der Community werden hingegen insgesamt eher selten verfasst.
Das Gefühl, zu einer Gemeinschaft zu gehören, Kontakte zu pflegen, Zusammenhalt unter Freunden zu finden, Engagement zu zeigen – das alles sind Aktivitäten, die wichtig für unser soziales Zusammenleben sind (Gulia & Wellman, 1997). Doch gerade in den letzten Jahrzehnten hat sich unser soziales Miteinander grundlegend verändert: Sozialbeziehungen sind selektiver geworden, funktionaler, spezifischer, kurzlebiger und geografisch breiter gestreut (Müller, 2002). Längst spielt sich unser soziales Zusammenleben nicht mehr nur in der „realen Welt“ ab – durch die Entwicklung virtueller sozialer Netzwerke wird das Internet mehr und mehr in das tägliche Leben integriert und beeinflusst so unser soziales Miteinander (Wellman, Quan Haase, Witte & Hampton, 2001).
Die Aktivität in Online-Communities ist nicht nur für die von uns befragten Studenten ein „must“. Warum werden Kontakte im 21. Jahrhundert vermehrt online gepflegt? Welche Auswirkungen hat dies auf reale Beziehungen?
„StudiVZ? Ist das nicht die Seite, auf der sich alle ausziehen und ihre Bilder online stellen?“ Entgeistert sieht Clara ihr Gegenüber an. Sie, die 20-Jährige Praktikantin. Er, der 55-jährige Ressortleiter der lokalen Zeitung. Eigentlich hätte sie sich von ihm wirklich etwas anderes erwartet. Aber er ist eben aus einer anderen Generation. Diese ist es nicht gewohnt, in einer Welt aufzuwachsen, in der man sein Leben im Netz dokumentiert und das neue Lebensmotto „Identitätskonstruktion im Netz“ heißt. Aber hat der grauhaarige Ressortleiter Recht? Erlebt die Gesellschaft durch die sozialen Netzwerke einen Werteverfall?
Nein. Höchstens eine neue Aushandlung von Normen und Werten. Aber auch die Standards in den Online-Communities sind streng. Wie in einem 200 - Seelendorf steht man auch in der Community unter ständiger Beobachtung. Jeder Fehltritt und jedes Nichteinhalten der Regeln kann nachverfolgt, beurteilt, geächtet werden. Vertrauen muss im Zentrum des neuen Moralverständnisses stehen. Auch Selbstverpflichtung und Verantwortung sind die neuen Leitmotive der Gesellschaft im Netz (Steinle & Wippermann, 2003). Durch Bloggen, Twittern, Posten, Kommentieren und Hochladen erfährt jeder User einen exponentiellen Zuwachs an Verantwortung – für sich und seine Mitmenschen. Der ehemals passive Rezipient wird durch das Web 2.0 zum aktiven Produzenten, oder gar zum neuen „Prosumenten“ (Toeffler, 1984). Einer Verbindung aus Produzent und Konsument. Alles ist möglich und dabei wird das Netz als die Demokratie schlechthin gesehen, als „Hort der freien und unzensierten Meinungsäußerung, Mythos der Unzensierbarkeit“ (Krempl, 2003, zitiert nach Divani, 2008, S.47).
Viele kommunizieren mit vielen. „Many-to-many“ heißt die neue Kommunikationssituation, die nun täglich millionenfach Anwendung findet. Meckel (2008, zitiert nach Grau, 2009, S.52) sieht darin große Vorteile:
„Über kommunikative und soziale Vernetzung verändern die Nutzer die gesellschaftliche Kommunikation - weg von den wenigen, die für viele
produzieren, hin zu den vielen, aus denen eins entsteht: das virtuelle Netzwerk der sozial global Verbundenen.“
Werte und Normen werden vor diesem völlig andersartigen Hintergrund neu ausgehandelt. Jede Aktivität, die man selbst im Netz darstellt, kann sofort bewertet, kritisiert, gelobt, gerügt werden. Nicht nur von einer stellvertretend kleinen Zielgruppe, sondern von der Masse der Menschen, die sich im Netz bewegt. Wir sind vernetzt - das steht fest. Doch werden wir uns in dem immer größer werdenden Geflecht aus Online-Communities verheddern? Oder können wir wie eine Spinne das soziale Netz leichtfüßig für unsere Zwecke nutzen? Das hängt von vielen Faktoren ab und somit birgt das soziale Geflecht Chancen und Risiken.
Einen wichtigen Vorteil der virtuellen Vernetzung beschreibt Walker (1995, zitiert nach Gulia & Wellman, 1997, S.1, übersetzt von M.S.) folgendermaßen:
„Zum ersten Mal in der Geschichte der Welt kann ich eine permanente, schnelllebige Konversation mit Menschen führen, ungeachtet ihres Aufenthaltsortes, Terminplanes oder anderer solcher Einschränkungen.“
Auch die eigene Studie spiegelt dies wider. So sehen 14 der 20 befragten Studierenden den größten Vorteil sozialer Netzwerke darin, Kontakte zu Menschen aufrecht zu erhalten, mit denen persönliche Treffen nicht möglich sind. Sieben von 20 Befragten sehen in ihnen die Möglichkeit, eingerostete oder vernachlässigte Freundschaften wieder aufleben zu lassen. Wiederum sieben schätzen außerdem die schnelle und nicht Zeit aufwendige Möglichkeit der Kontaktaufnahme.
Online-Netzwerke bieten somit eine Plattform, um kostengünstig Kontakte zu jeder Zeit und von jedem Ort der Welt aus zu pflegen. Bereits bestehende Kontakte können aufrechterhalten und gestärkt, neue Kontakte können geknüpft werden (Wellman et al., 2001). Laut einer HISBUS-Studie (Kleimann, Özkilic & Göcks, 2008, S. 6) nutzen 72 Prozent der Studierenden Social-Communities zur Kommunikation mit den Freunden, 52 Prozent, um alte Freunde wiederzufinden. Ein Ergebnis, das sich auch in unserer Studie abzeichnet. Für die Hälfte der Befragten sind Online-Communities zur wichtigsten Möglichkeit geworden, Kontakt zu Freunden zu halten. Elf der 20 Befragten gaben an, studiVZ mindestens einmal pro Woche zu nutzen, um an Freunde persönliche Nachrichten zu verschicken und sie auf diesem Wege zu kontaktieren. Und immerhin sieben von 20 nutzen die Online-Community, um nach neuen Kontakten und alten Bekannten zu suchen.
Soziale Netzwerke sind jedoch nicht nur ein Ort, an dem alte und neue Bekanntschaften geknüpft und gepflegt werden. Für viele sind sie ein Ort, um Freude und Sorgen auszutauschen, sich Ratschläge in Lebens- und Computerfragen zu geben und eine Art Gemeinschaft zu kultivieren (Gulia & Wellman, 1997). Das Gefühl einer Online-Gemeinschaft anzugehören, schätzen vor allem diejenigen, die viel Zeit online verbringen. Für sie bietet das Internet die Möglichkeit, das Sozialkapital zu stärken und soziale Interaktionen aufblühen zu lassen (Wellman et al., 2001). Vor allem Chats und Foren bieten Platz, um Probleme auszutauschen und zu besprechen. Per Emoticon können Gefühle und Emotionen übermittelt werden. Bei der Online-Community studiVZ ist es sogar möglich, sich zu „gruscheln“. Ein Kunstwort auf der Plattform, das irgendetwas zwischen „grüßen“ und „kuscheln“ meint.
In sozialen Netzwerken wird geküsst, umarmt, gelacht. Doch wie intensiv und ernsthaft kann eine Emotion sein, die per Tastatur oder Mausklick übermittelt wird? Und wie stark und intim kann eine Gemeinschaft sein, die sich auf ebendiese Emotionen stützt?
„On the Internet […], people would put words like „grin“ or „smile“ or „hug“ in parantheses in a note. It´s a code meaning cyberhugs, cybersmiles, cyberkisses. But at bottom, that cyberkiss is not the same thing as a real kiss. At bottom, that cyberhug is not going to do the same thing. There is a big difference.” (Barlow et al., 1995, zitiert nach Gulia & Wellman, 1997, S. 6)
Es ist durchaus fraglich, ob über das Netz überhaupt enge, starke und intime Bindungen entstehen und aufrechterhalten werden können, oder ob es hauptsächlich als Plattform für die Unterstützung und Pflege schwacher, kurzlebiger Beziehungen dient (Gulia & Wellman, 1997).
Noch nie war es so einfach, Freundschaften zu schließen und neue Kontakte zu knüpfen. In sozialen Netzwerken scheinen Freundschaften wie Pilze aus dem Boden zu schießen. Mit durchschnittlich 137 Menschen sind unsere befragten Studierenden bei studiVZ befreundet. Im „realen Leben“ hingegen bezeichnen dieselben Personen durchschnittlich 19 Menschen als ihre Freunde. Doch woher kommt dieser große Unterschied? Forscher sehen einen Grund für diese Differenz darin, dass das Internet vor allem kurzlebige, oberflächliche Beziehungen fördert (Wellman et al., 2001). Würde man die Nutzer von Online-Communities danach fragen, wer ihre wirklich guten Freunde im Netz seien, sähe das Ergebnis sicherlich anders aus. Denn beinahe die Hälfte unserer Studierenden gaben an, im Netz zwar viele Kontakte zu haben, aber nur die wenigsten davon wirklich gut zu kennen.
Auf digitalem Wege ist es für viele Menschen einfacher, Kontakte zu knüpfen und sich kennenzulernen. Die Anonymität des sozialen Netzwerkes bietet ein geschütztes Umfeld, um sich anderen Personen gegenüber zu öffnen (Müller, 2002). Im Internet kommuniziert man, ohne den anderen zu sehen oder zu kennen. Oftmals ist vom Gesprächspartner nur der Username bekannt, der nicht selten völlig fiktiv formuliert ist. Soziale Netzwerke bieten somit eine Umgebung, in der anonym und pseudonym kommuniziert werden kann (Müller, 2002). Ein jeder kann sich in neuen Rollen ausprobieren, an seiner Selbstdarstellung basteln und kreativ sein. In einem eigenen Nutzerprofil kann eine optimale Form der Selbstpräsentation stattfinden, negative Eigenschaften können leicht im Verborgenen bleiben (ebd.). Ungeachtet von sozialem Status, äußerer Erscheinung, Glaube, Geschlecht oder Aufenthaltsort können so Beziehungen auf der Basis gemeinsamer Interessen entstehen - „On the Internet, nobody knows if you`re a dog” (Gulia & Wellman, 2001, S.17).
Doch was sich einerseits als positiv herausstellt, kann andererseits riskant sein. Die Möglichkeit der Anonymität kann zur Waffe werden. Wer verbirgt sich wirklich hinter meinem virtuellen Freund? Ist er mir positiv oder negativ gesinnt? Alle Informationen, die ich online stelle, können gegen mich verwendet, zweckentfremdet, missbraucht werden. Cybermobbing ist hierbei nur ein Phänomen, das sich in den Weiten des Netzes ausbreitet wie ein Lauffeuer. Ein anonymer Auftritt scheint die Hemmschwelle für Unflätigkeiten zu verringern und angesichts der „Exit“-Option kann man sich einer kritischen Diskussion leicht entziehen (Müller, 2002). Ein einfacher Mausklick reicht aus, um nicht nur Gespräche, sondern ganze Freundschaften zu beenden.
Der Grat zwischen Nutzen und Risiko von sozialen Netzwerken ist schmal - dessen ist sich auch ein Großteil der befragten Studenten unserer Studie bewusst. Dass eine Kommunikation über das Netz kein Ersatz für ein „face-to-face“ –Treffen ist, ist für viele neben den Bedenken zum Datenschutz und zur Privatsphäre der größte Nachteil sozialer Netzwerke. Wer sich zu sehr auf ein Leben in virtuellen Netzwerken fixiert, der läuft außerdem Gefahr, seine realen Kontakte zu verlieren. Online-Communities können uns von unserem Umfeld ablenken und dazu führen, dass wir den Menschen und Ereignissen in unserer Umgebung weniger Aufmerksamkeit schenken (Wellman et al., 2001).
„While all this razzle-dazzle connects us electronically, it disconnects us from each other, having us „interfacing“ more with computer and TV screens than looking in the face of our fellow human beings.” (Fox, 1995, zitiert nach Gulia & Wellman, S. 2)
Neben der Möglichkeit der Kontaktpflege und des Kontaktaufbaus werden soziale Netzwerke mehr und mehr für den Austausch von Informationen genutzt. Auch bei Studierenden findet die Online-Community als Informationsplattform immer mehr Anklang. So gaben 16 von 20 Studierenden in unserer Umfrage an, soziale Netzwerke bereits für studienrelevante Zwecke genutzt zu haben. Ein entscheidender Punkt für diese Nutzung ist sicherlich, dass in sozialen Netzwerken Menschen mit ähnlichen Interessen und ähnlichen Ansichten zusammenkommen. Vor allem in Netzwerken mit besonders stark verbundenen und sehr ähnlichen Akteuren wird hierbei die Informationsverteilung gefördert.
Individuen passen sich gegenseitig an ihre Verhaltens- und Denkweisen an - ähnliche Ideen werden transportiert und ähnliches Gedankengut entwickelt. Durch die Vernetzung tauschen einzelne Akteure Wissen aus, gewinnen neue Ansichten und erfahren eine individuelle Weiterentwicklung.(Gruber & Rehrl, 2009). Durch das Medium Internet an sich wird außerdem ein sehr schneller Informationsaustausch gewährleistet (Gulia & Wellman, 1997). Dass man dabei meist blindlings auf die Informationen und den Rat Anderer vertraut, ist nicht immer vorteilhaft.
„Wikipedia darf nicht zur Bibel werden!“ So oder so ähnlich könnte der Slogan einer potenziellen Web-2.0-Aufklärungskampagne lauten. Das Zeitalter des User-Generated-Content ist da. Im Netz findet sich ein breites Spektrum unterschiedlichster Formen dieser von der Masse der Nutzer produzierten Inhalte. Ebenso unterschiedlich ist aber auch die Qualität solcher Inhalte. Jeder kann Wissen und Informationen aus dem Web abrufen, aber jeder kann auch Wissen online stellen. Die Frage bleibt: Wer kontrolliert dieses Wissen? Wer überprüft die Inhalte auf ihre Richtigkeit und Gültigkeit?
Informationsaustauch im Netz- auf den ersten Blick eine vermeintlich gute Sache. Aber immer mehr Kritiker weisen auf die offensichtlichen Nachteile des aktuellen Informationsmanagements im Internet hin. Damit das „Many-to-many“- System, die Weisheit der Masse, funktioniert, müssen einige Dinge vorausgesetzt werden: zum einen, dass nutzerbasierte Inhalte den Anspruch erfüllen, dass es sich lohnt diese zu verbreiten und mit anderen zu tauschen. Zum anderen, dass „traditionelle Institutionen wie Regierungen, Universitäten, Kliniken oder ganz allgemein: Fachleute - qualitativ etwas schlechteres zustande bringen“(Gaschke 2009, zitiert nach Grau, 2009, S.52), als die breite Masse.
So gesehen unerfüllbare Ansprüche, die einen an diesem „Many-to-many“-System zweifeln lassen. Trotz dieser Bedenken scheint es, als sei der Begriff der „Schwarmintelligenz“ aktuell nicht klein zu kriegen. Die Vorstellung von einer Gesellschaft, die im Kollektiv intelligenter und sozialer lebt, wird von Befürwortern des Web 2.0 gezeichnet. „Ein solcher Zustand scheint dem Ideal einer Demokratie näher zu kommen, als es jemals zuvor der Fall gewesen ist.“ (Divani, 2009, S.48)
Der Frage nach der Qualität ihrer literarischen Ergüsse im Netz kann sich auch Clara längst nicht mehr entziehen. Nicht nur, wenn sie auf Wikipedia einen Beitrag über die schwäbische Alb verfasst, sondern auch wenn sie Informationen und Inhalte in sozialen Netzwerken veröffentlicht. Denn soziale Netzwerke erfüllen mehr als nur eine Funktion: Neben dem Knüpfen und Pflegen von Kontakten und der Möglichkeit zur Selbstdarstellung, wird auch der qualitative Informationsaustausch für die Community-Mitglieder immer relevanter. Vertraute man früher auf Tageszeitung und Fernsehen, setzen heute viele junge Internetnutzer auf den User-Generated-Content.
Weblogs (Blogs) dienen dazu, Meinungen im Netz zu präsentieren, darüber mit anderen zu diskutieren und über die Zeit ein dichtes Netzwerk unter den Blog-Nutzern aufzubauen (Schuster, 2004). Blogs können mittlerweile in ganz unterschiedlichen Kontexten eingesetzt werden: Von Privatpersonen als persönliches Veröffentlichungsformat aber auch von Unternehmen zur Kommunikation mit Kunden oder zur Selbstdarstellung (Katzenbach, 2008). In Blogs werden zu verschiedenen Themen eigene kleine Öffentlichkeiten geschaffen. Doch sind diese Öffentlichkeiten überprüfbar und nachvollziehbar? Das Führen von Blogs ist vor allem intrinsisch motiviert (Katzenbach, 2008). Webloginhalte unterliegen ihren ganz eigenen Regeln und Strukturen. „Die Mehrzahl der Blogger nutzen das Format, um einfach und ohne externe Vorgaben Texte zu veröffentlichen, in denen sie sich mit Dingen auseinandersetzten können, die sie selbst betreffen. Die persönliche Relevanz für den jeweiligen Autor bildet somit das Zentrum des Weblogs “ (Katzenbach, 2008, S.87).
Die Frage, ob sich Blogs in einem Atemzug mit Journalismus nennen dürfen, stellt sich daher schon lange nicht mehr. Die Relevanzentscheidungen von Bloggern verweisen meist auf subjektive Kriterien, während sich journalistische Produkte an Konstruktionen gesellschaftlicher Relevanz oder breitem Interesse (Nachrichtenwerten) orientieren (Katzenbach, 2008). Diesem Konsens zuträglich ist auch das Selbstverständnis der Blogger, denn diese scheinen einen Vergleich mit dem Journalismus selbst gar nicht nahe liegend zu sehen: „(So) reagieren viele Weblog-Autoren irritiert, wenn sie als `Pseudojournalisten` bezeichnet (und kritisiert) werden - ein solches Etikett entspricht weder ihrer Intention, noch ihrer eigenen Erfahrung.“ (Schmidt, Schönberger, Stegbauer, 2005, S.5)
Die neue Generation sollte also längst aufgeklärt sein. Darüber, dass der User-Generated-Content mit Vorsicht zu genießen und nicht mit fundierten Quellen gleichzusetzen ist und darüber, dass man selbst selektieren und entscheiden muss, was sich als glaubwürdige Quelle erweist. In unserer Erhebung haben wir Studierende dazu befragt, für wie glaubwürdig sie die dargestellten Informationen und Inhalte im sozialen Netzwerk studiVZ beurteilen. 13 der 20 Befragten gaben an, den Wahrheitsgehalt der Inhalte nur schwer einschätzen zu können und sechs Studenten attestierten den Informationen eine eher geringe Glaubwürdigkeit. In sozialen Netzwerken wie Blogs oder Online-Communities scheinen Informationen also eher kritisch beäugt zu werden.
Im Gegensatz dazu dürften andere Plattformen mit einem User-Generated-Content bei den Studierenden hoch im Kurs zu stehen. Im Rahmen der Befragung der HISBUS- Studie (Kleimann et al. 2008) gab rund die Hälfte der befragten Studenten an, dass sie den Informationen auf der Plattform Wikipedia und des Onlinewörterbuchs Leo.org vertrauen und deren Inhalte als sehr verlässlich einstufen.
Bei den übrigen Informations-und Wissensportalen der Studie wie beispielsweise Meyers Lexikon, Spiegel Wissen oder Zeit Online ergibt sich interessanterweise ein ganz anderes Bild. Die Mehrzahl der Befragten gibt hier an, dass sie die Verlässlichkeit der Informationen nicht beurteilen könne. Gerade dem von Nutzern gestalteten Inhalt, der Weisheit der Masse, wird eine hohe Verlässlichkeit attestiert. Dabei setzen sie aber nicht auf ihre eigenen Fähigkeiten - denn laut HISBUS ist so gut wie keiner der Befragten je in der Wikipedia-Community aktiv gewesen. Nur ein verschwindend geringer Teil überarbeitet die bestehenden Artikel oder erstellt gar einen neuen. Rund 80 Prozent begnügen sich mit dem Rezipieren der Web 2.0-Inhalte
Binnen weniger Jahrzehnte hat sich ein ungeahnter Wandel des menschlichen Zusammenlebens vollzogen. Soziale Netzwerke bieten die optimale Plattform im Internet, um auch ohne reale Treffen - ohne sich zu sehen, zu spüren und zu riechen - in Kontakt zu bleiben. In Online-Communities wie studiVZ geben Mitglieder preis, wo sie leben, was sie studieren, welche Schule sie besucht haben, welchen Musikgeschmack sie haben, was ihr Lieblingsbuch, ihr Lieblingsfilm ist, ob sie verliebt, vergeben oder solo sind. Per „Buschfunk“ werden die neusten Ereignisse ausgeplaudert, auf den hochgeladenen Fotos sind alle Aktivitäten der letzten Wochen zu sehen. Wer ist mit wem befreundet? Ein paar Klicks genügen und man weiß nahezu alles über sein Gegenüber. Ist der persönliche Kontakt im Zeitalter des Web 2.0 überhaupt noch notwendig?
Ja - belegen die Ergebnisse der durchgeführten Studie. Für 16 von 20 Befragten ist ein persönliches Treffen immer noch die wichtigste Möglichkeit, um Kontakt mit Freunden zu halten. 12 Studienteilnehmer treffen sich täglich mit Freunden und Bekannten im realen Leben, acht virtuell. Die Verbreitung von Online-Communities im Netz erfolgt „nicht zwingend auf Kosten der direkten Beziehungen“ (Müller, 2002, S. 355). Die Online-Kommunikation ersetzt Offline-Beziehungen nicht, sondern ergänzt sie (ebd., 2002). Laut JIM-Studie (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest, 2009) wenden sich Jugendliche in ihrer Freizeit häufig nicht-medialen Tätigkeiten zu. Das Treffen mit Freunden steht auch bei den 12- bis 19-Jährigen mit 88 Prozent an erster Stelle.
Mit diesem Hintergrundwissen könnte man beruhigt sein. Noch wird der persönliche Kontakt geschätzt. Doch wo stehen wir in 10 Jahren?
8. Mai 2020: Seit zwei Monaten hat Clara das Haus nicht mehr verlassen, zumindest nicht das in der realen Welt. Clara lebt in einer Parallelwelt. Ihr komplettes Leben spielt sich online ab. Second Life hat längst ihr First Life ersetzt. Clara trifft sich mit Freunden, macht Sport, geht shoppen und studiert – alles virtuell. Soziales Zusammenleben ist ein Ausdruck, der längst zu einem Begriff des Internets geworden ist. Heute sagt man: „e-sozial“.
Dieses Szenario, eine Utopie? Fragt sich nur wie lange.
1Studenten wird in diesem Text synonym mit der Bezeichnung „Studenten und Studentinnen“ verwendet.