Haf, C. (2009). Lernen 2.0: Beispiele für das „Mitmachweb" im Hochschulkontext . w.e.b.Square. 01/2009. URL: http://websquare.imb-uni-augsburg.de/2009-01/5
Zeiten ändern sich und mit ihnen auch Menschen und Technik. Darauf müssen auch die Hochschulen reagieren und sich wie Chamäleons einer sich ständig verändernden Umgebung anpassen. Da erobern „neue" Studierende mit anderen Gewohnheiten und Bedürfnissen den Campus (Stichwort „Net-Generation"); dort werden die Bildungseinrichtungen von einer Hochschulreform à la Bologna heimgesucht. Und die Technik tut ihr übriges: In rasantem Tempo liefert sie neue Möglichkeiten, die genutzt werden wollen - auch und gerade in der Bildung. Unverändert bleibt nur eins: das Ziel, den Bildungsauftrag zu erfüllen und die Studierenden auf das Leben nach der Universität vorzubereiten. Um dies bestmöglich zu erreichen und dabei allen Anforderungen gerecht zu werden, scheint der Einsatz von „E-Learning 2.0" eine mögliche Lösung zu bieten. Worum es sich dabei handelt, auf welche didaktischen Grundlagen sich Entwicklung und Einsatz stützen und wie solche Lernangebote konkret aussehen (können), soll im Folgenden dargelegt werden.
Die Bezeichnung „E-Learning 2.0" ist zurückzuführen auf das Buzzwort „Web 2.0". Derzeit in aller Munde, können dennoch (bisher) nur wenige etwas mit dem Begriff anfangen. Tatsächlich handelt es sich dabei weniger um technische Entwicklungen als vielmehr um eine neue (Marketing-)Interpretation und Nutzung des WorldWideWeb. Während dieses zu Web 1.0-Zeiten fast ausschließlich passiv als „Abrufnetz" genutzt wurde, ist heute sprichwörtlich vom „Mitmachnetz" die Rede. Dabei wird der Consumer zum Prosumer (Producer + User), der Inhalte nicht nur nutzt, sondern auch generiert, distribuiert und kommentiert. Die Kommunikations-, Kollaborations- und Interaktionsmöglichkeiten sind vielfältig und reichen von Foren und Chats über Wikis, Blogs, E-Portfolios und Podcasts bis hin zu virtuellen Welten. Kommen diese Werkzeuge innerhalb von Lehr-/Lernszenarien zum Einsatz, spricht man von „E-Learning 2.0" (vgl. Gaiser, 2008).
Wie anfangs erwähnt, ist heutzutage vieles - ebenso im Bildungsbereich - sehr kurzlebig. Das gilt jedoch nicht für einige Paradigmen aus der pädagogischen Psychologie - deren Wurzeln sind teilweise auf das 19. Jahrhundert zurückzuführen. Auch aktuelle Bildungsangebote - sowohl im Präsenz- als auch im E-Learning-Bereich - setzen bewusst auf wesentliche Grundsätze aus dem Konstruktivismus, z.B. nach Wygotski (1896-1934) bzw. dem „verwandten" Pragmatismus nach Dewey (1859-1952)1. Diese Ansätze gehen unter anderem davon aus, dass Lernen möglichst handlungsorientiert, das heißt in eigene Erfahrungen eingebettet sein sowie in einer authentischen Umgebung mit realitätsnahen Problemstellungen stattfinden sollte. Dies wirkt zum einen (experimentell) motivierend und führt zum anderen zu einem tieferen Verstehen und im Ergebnis zu anwendbarem (Transfer-)Wissen. Besonders betont werden dabei stets soziale Interaktionen, die zum Lernen motivieren und unter anderem durch Wissensteilung zu besseren (gemeinsamen) Lernergebnissen führen sollen (vgl. Kerres & de Witt, 2004). Auch in den folgenden Beispielen wird versucht, diesen Ansprüchen gerecht zu werden. So bilden das (reale) Praktikum im Augsburger Begleitstudium ebenso wie die virtuelle Lernwelt an der University of California authentische Rahmen, die die Studierenden zum explorativen Handeln (und Lernen) anregen sollen. Zudem bemühen sich alle drei angeführten Lernangebote mittels Instrumenten wie Foren, Chats, Blogs und Wikis soziale Interaktionen zu erleichtern und zu fördern.
Wer nach E-Learning-Angeboten stöbert, mag zwar weltweit vielfach fündig werden, doch Auskünfte über konkrete Gestaltungsmöglichkeiten im Web 2.0 sind (noch) ebenso rar wie entsprechende Evaluationsberichte. Dennoch wird klar, dass sich die bestehenden Angebote in vielen Punkten sehr ähnlich sind. Unterschiede sind vorwiegend inhaltlicher Art, was der Einsatz in verschiedenen Fächern und die Anpassung an Disziplinen mit sich bringt. Während Seminare, Tutorien, Labore oder Praktika in virtuellen Welten (siehe dazu Abschnitt 3.3) noch selten sind, bedienen sich viele Szenarien im Hochschulkontext einer Kombination aus verschiedenen Web 2.0-Tools wie Wikis, Blogs und Foren, welche meist in einem E-Portfolio-System gesammelt sind. Beispielhaft für letzteres sei zunächst der Einsatz im Begleitstudium Problemlösekompetenz der Universität Augsburg genannt.
Beim „Begleitstudium Problemlösekompetenz" handelt es sich um ein freiwilliges Zusatzangebot im Medien und Kommunikations-Studium, bei dem Studierende ihre in praktischen Projekten gesammelten Erfahrungen mit theoretischen Inhalten aus dem Fachstudium verknüpfen. Das Projektangebot reicht von der Beratung studentischer Arbeitsgruppen (Mediatoren) über die Erstellung von Podcasts (Suni und Partner), der Mitentwicklung von Online-Plattformen bis hin zur Mitarbeit in Print-, Online-, Radio- oder Fernsehredaktionen (z.B. Presstige/w.e.b.Square/Kanal C/Blickpunkt Campus)2. Wer sich davon noch nicht angesprochen fühlt, ist eingeladen eine neue Gruppe zu gründen - den Interessen und Phantasien sind praktisch keine Grenzen gesetzt. Doch was hat das Ganze nun mit Web 2.0 zu tun? Zum einen beinhalten einige der praktischen Projekte selbst Aktivitäten im Sinne des „Mitmachweb" (z.B. Entwickeln von Online-Plattformen3 oder Arbeit in Online-Redaktionen4) und zum anderen existiert parallel dazu ein E-Portfolio-System5 mit verschiedenen Funktionen. Durch dessen Einsatz werden eine Reflexion der Lernprozesse sowie die Verbesserung der Reflexionskompetenz verfolgt. Des Weiteren dient es dem Wissensmanagement und der Bewertung der geleisteten Projektarbeit durch Lehrpersonen. Das E-Portfolio-System lässt sich in drei Schritte bzw. E-Portfolios unterteilen, welche die Schnittstellen zwischen theoretischen Studieninhalten und praktischen Projekterfahrungen bilden: Arbeits-, Story- und Testportfolio6 (vgl. Sporer, Jenert, Strehl & Noack 2007).
Abbildung 1: Einsatz von Portfolios im Begleitstudium (Sporer et al. 2007, S. 7)
Bezüglich der sozialen Interaktion können (nach festgelegten Zugriffsregelungen) gesammelte Beiträge von Community-Mitgliedern oder auch anderen Usern bewertet, kommentiert und mit eigenen Beiträgen vernetzt werden. Dadurch und mittels gemeinschaftlicher Community-Blogs kann - neben dem persönlichen Kontakt und der Zusammenarbeit bei der Durchführung von Aufgaben - eine soziale Kommunikation und Kooperation stattfinden. So kann Wissen noch effektiver geteilt und soziales Lernen gefördert werden (vgl. Sporer et al., 2007).
Auch die „interaktive Vorlesung eSOWI-STEP"7 an der Universität Wien bietet den Studierenden die Möglichkeit zur Selbstreflexion mittels E-Portfolio. Im Unterschied zum Einsatz beim Augsburger Begleitstudium steht dieses hier jedoch nicht im Vordergrund, sondern stellt neben Content Pool (hypermediale Lehr-/Lernunterlagen) und begleitenden E-Learning-Kursen (für freiwillige Diskussionen und Übungen) „nur" eine von drei Web-2.0-Komponenten dar, die sozialwissenschaftliche Präsenzvorlesungen entlasten und ergänzen sollen (Blended-Learning-Modell). Spezielle Ziele des Projekts bestehen in der Motivation zu Kommunikation und Kooperation, der Anleitung zur Selbstreflexion und Selbstorganisation sowie der Entwicklung von überfachlichen Kompetenzen wie Medienkompetenz. Basierend auf einem konstruktivistischen Modell der aktiven Lerntheorie nach Anderson und Garrison (vgl. Schallert, Budka & Payrhuber, 2008) steht dabei die Interaktion mit den Lehrenden (1), dem Content (2) und den Mitstudierenden (3) im Mittelpunkt. Sogenannte Teaching-Assistents begleiten und unterstützen alle drei Interaktionsprozesse (1-3). Sie halten die Studierenden sowohl in der Präsenz als auch per Online-Kommunkikation zur kritischen Betrachtung und Diskussion des Vorlesungsstoffs an und unterstützen sie dabei (z.B. indem sie auftretende Fragen beantworten). Außerdem stellen sie betreute Übungen und Selbsttests zur Prüfungsvorbereitung bereit. Bei der Präsenzvorlesung handelt es sich um eine interaktive Face-to-Face Lehr-/Lernsituation, die neben dem Faktenwissen Verständnis für verschiedene Sichtweisen vermittelt. Dadurch werden die Studierenden befähigt, eigenständig (Inhalte) zu reflektieren. Laut Schallert et al. (2008) werden hier auch von den Teilnehmern online vorgenommene Ergänzungen des Unterrichtsstoffs diskutiert (Interaktion mit den Lehrenden (1)).
Durch die freiwillige Teilnahme an virtuellen Diskussionen (in Online-Foren) und Übungen sollen Studierende lernen, ihr Wissen anzuwenden (Transfer) sowie überfachliche Fähigkeiten wie Medienkompetenz, Selbstkompetenz, Kommunikations- und analytische Kompetenz zu entwickeln. Gegen Ende des Semesters soll eine Selbstreflexion mittels E-Portfolio mit Leitfragen zu Studium und Fach das Überdenken der Studienwahl unterstützen. Daneben ist erwünscht, dass sich die Studierenden mittels eines Peer-Review-Verfahrens (per Email) gegenseitig Feedback geben (Interaktion mit den Mitstudierenden (2)). Die online frei zugänglichen Content Pools beinhalten hypermediale Lehr-/Lernunterlagen, digitalisierte Basistexte sowie Audio- und Videomitschnitte zu den Lehrveranstaltungen. Diese Unterlagen dienen allgemein als „Basisliteratur", mit der die Lernenden selbstständig arbeiten können. Darüber hinaus sollen sie Impulse für verschiedene Lernformen setzen, vor allem für selbstgesteuertes und exploratives Lernen. Durch die hypermediale Strukur und integrierte Tools (z.B. Navigationstools zu bestimmten Fragestellungen) können Studierende z.B. individuellen Lernpfaden folgen und Inhalte nach eigenen Interessen auswählen und kombinieren. Diese Möglichkeit zur Selbststeuerung soll motivierend wirken und ermöglicht das individuelle Verbinden von verschiedenen Inhalten in Form von Online-Mindmaps mittels der Software „MindManager". Schließlich sind die Studierenden aufgefordert, eigenständig Ergänzungen zu den Vorlesungsinhalten zu erarbeiten (Interaktion mit dem Content (3)) (vgl. Schallert et al., 2008).
Auf der Suche nach Lernszenarien in virtuellen Welten stößt man auf (scheinbar) unzählige Angebote. Vor allem in der wohl bekanntesten Version „Second Life" zeigen sich viele Universitäten, vor allem US-amerikanische, sehr experimentierfreudig. Aber auch in Deutschland finden sich immer mehr Verfechter des Lehrens und Lernens in einer „zweiten Realität" (z.B. an der RFH Köln8 und der Universität Hamburg9). Für die Anthropologie an der University of California wurde schon 2003 eine virtuelle Lernwelt entwickelt, die mit aktuellen Angeboten in Second Life vergleichbar ist. Sie stellt einen Versuch dar, durch die Kombination des traditionellen Präsenzunterrichts mit E-Learning die jeweiligen Vorteile auszuschöpfen. Spezielle Ziele des Projekts sind die Erkundung von und Arbeit in Umgebungen, die in der Realität nicht erreichbar sind, vielfältige Erfahrungsformen und eine verstärkte Kommunikation und Kooperation unter allen Beteiligten. Dafür wurden drei Typen von Lernumgebungen entwickelt (vgl. Kalay, 2004):
Bei der Gestaltung der Kursumgebung orientierte man sich an architektonischen Grundsätzen („Place-Based-Learning"), die der Umwelt, in der man lebt, lernt, arbeitet etc. eine wichtige Rolle zusprechen. Ist diese an die Bedürfnisse der Akteure angepasst, entsteht ein Zugehörigkeitsgefühl, eine Verbundenheit und das völlige „Eintauchen" in die Lernwelt wird möglich. Anstatt die Informationen nur „von außen" anzubieten, kann der Akteur Teil der Handlung werden. Kalay (2004) spricht hier auch von einer neuen wertvollen Erfahrungsform, der „Inhabitation", die durch das Bewohnen der virtuellen Welt entsteht. Des Weiteren ist ein (bewusst) definierter und geordneter Raum für die Akteure interpretierbar und kann gewünschte Aktivitäten hervorrufen oder fördern.
Insgesamt bieten virtuelle Welten die Möglichkeit, (Lern-)Umgebungen und Gegenstände selbst - allein oder in Kooperation - zu gestalten und für alle Nutzer greifbar zu machen. Dadurch werden (Lern-)Objekte erfahrbar, (Entstehungs-)Prozesse nachvollziehbar und es soll zur Immersion kommen, einer starken emotionalen Beteiligung, die sich besonders positiv auf das Lernergebnis auswirken soll (vgl. Müller & Leidl, 2007). Die virtuelle 3-D-Nachbildung der archäologischen Ausgrabungsstätte Catalhöyük versucht diese Möglichkeiten zu nutzen und bietet kontextreiche Erfahrungen aus erster Hand. Konkret können die Studierenden die historische Stätte mit einem Avatar (digitale Figur) zu Fuß erkunden, in die Häuser klettern, Objekte aus verschiedenen Perspektiven betrachten und diese mit anderen Informationsquellen (z.B. Webseiten, Powerpoint-Präsentationen) verlinken. Es besteht außerdem die Möglichkeit, Gegenstände zu bewegen und zu verändern. Sowohl in der Kulturstätte als auch in Seminar- und modernem Arbeitsgebäude findet sich Raum für kooperative Arbeit unter Studierenden und Lehrpersonen und auch alle anderen Erlebnisse finden nicht sozial isoliert statt, z.B. können Gegenstände gemeinsam untersucht und „vor Ort" mittels (Voice-)Chat oder Whiteboard diskutiert werden. Zudem bietet der sog. „Feedback-Loop" in Form eines Blogs die Möglichkeit zur gegenseitigen Kommentierung (vgl. Kalay, 2004).
Wenn man bisherige Evaluationen betrachtet (vgl. Sporer et al. 2007; Schallert et al., 2008), ist es mit der tatsächlichen Nutzung von E-Learning mit Web-2.0-Elementen noch nicht so weit her wie die inzwischen zahlreichen Angebote der deutschen Hochschulen vermuten lassen. Untersuchungen in Augsburg und Wien bezüglich der o.g. Beispiele ergaben jeweils nur geringe Beteiligungen der Studierenden. Leider lassen sich diese Erfahrungen auch auf andere „Mitmachweb"-Angebote im Hochschulkontext übertragen. Wie eine aktuelle Hisbus-Studie (2008) zeigt, verwenden Studierende das WorldWideWeb vorwiegend als Informationsquelle (vor allem Wikipedia) und zu Kommunikationszwecken. Und dies geschieht häufig „nur" vor dem Hintergrund privater Motive (fast Dreiviertel der Befragten) und weniger im Zusammenhang mit dem Studium (ein gutes Drittel). Interaktive Lernangebote à la Web 2.0 werden nur von 22 Prozent der Immatrikulierten wahrgenommen. Speziell bei virtuellen Seminaren, Tutorien und Praktika (vgl. Abschnitt 3.3) liegt die Nutzungsrate bei gerade mal fünf Prozent. E-Portfolios/Lerntagebüchern (vgl. Abschnitt 3.1) kommen nur bei 11 Prozent zum Einsatz, obwohl diesen von knapp Dreiviertel der Befragten ein hoher Nutzen zugesprochen wird. Größeres Interesse konnten Online-Übungen und Tests wecken - ca. 30 Prozent gaben an, damit zu arbeiten (vgl. Kleimann, Özkilic & Göcks, 2008). Mögliche Ursachen für das zurückhaltende Verhalten der Studierenden gegenüber freiwilligen Angeboten werden vorwiegend darin gesehen, dass die Zielgruppen darin einen unmittelbaren Mehraufwand und demgegenüber einen zu geringen langfristigen Nutzen sehen. Vor allem bei Angeboten in virtuellen Welten kommen zusätzlich noch technische Probleme hinzu.
Doch wie können Studierende zur Nutzung von interaktiven E-Learning-Angeboten motiviert werden, dass diese nachhaltig in die Hochschullehre integriert werden können? Klar scheint, dass eine technische Weiterentwicklung dazu nur einen geringen Beitrag leisten kann. Klar scheint auch, dass begleitende Evaluationen zur Lösung dieses Problems unabdingbar sind. Diese machen die jeweilige Situation sowie die Ansprüche der Zielgruppen sichtbar, worauf eine Weiterentwicklung der Lernarrangements aufbauen kann und sollte.