Login
|
Impressum
|
Über uns
|
Kontakt
w.e.b.Square
Wissensmanagement und E-Learning unter Bildungsperspektive
Ausgabe 2009 05

Heuristisches Rahmenmodell sozialer Netzwerke

Konzept für die systematische Evaluation von techno-strukturellen und human-prozessualen Aspekten einer medialen Angebotsform


Schnurr_Heuristik_gr.jpg

Zahlreiche Wissenschaftler beschäftigen sich mit dem Nutzen von bzw. Problemen in sozialen Netzwerken. Unter anderem wird häufig die Frage aufgeworfen, inwiefern Online-Communities zu mehr sozialer Eingebundenheit oder auch zu einer technologischen Entfremdung führen können. Der folgende Artikel von Jan-Mathis Schnurr soll in Form eines heuristischen Rahmenmodells einen Beitrag zu dieser Frage leisten. Anhand dieses Modells wird eine systematische Reflexion über soziale Netzwerke ermöglicht, indem verschiedene Systematisierungs- und Typisierungsansätze aus der Fachliteratur synthetisiert werden. So berücksichtigt der Autor zum einen techno-strukturelle und zum anderen human-prozessuale Aspekte sozialer Netzwerke.

Im Zuge der Weiterentwicklung des Internet zum Web 2.0 (Fisch & Gscheidle, 2008) haben sich eine Reihe neuer Angebotsformen von sozialen Prozessen und Strukturen im Internet etabliert, die gemeinhin unter dem Oberbegriff der "Social Softwares" (Schmidt, 2007) zusammengefasst werden. Dazu zählen soziale Netzwerke. Persönliche soziale Netzwerke (Facebook, MySpace, Lokalisten, Orkut, StudiVZ etc.) und berufliche soziale Netzwerke (XING, LinkedIn etc.) verzeichnen großen Zulauf. 24 Prozent der über 14 Jahre alten Online-Nutzer verfügen über ein Profil in einem oder mehreren privaten Netzwerken und nutzen die Angebote zumindest einmal wöchentlich (Gscheidle & Fisch, 2009). Dem gegenüber stehen die fünf Prozent aus dieser Gruppe, die Mitglied in beruflichen Netzwerken sind und sie zumindest einmal wöchentlich (ebd.) aufrufen. Die sozialen Netzwerker profitieren in einer Vielzahl von Interessen, Kontexten und organisationalen Hintergründen. Ihr Selbstbild wird zu einem nicht unbeträchtlichen Teil über die Anzahl ihrer Kontakte in sozialen Netzwerken bestimmt. Dieser Nutzungsumfang hat das Interesse sowohl der Journalisten als auch der wissenschaftlichen Autorenschaft geweckt.

In den Medien wird meistens über die Entwicklungen von Nutzerzahlen sowie über die Vorteile und Nachteile der sozialen Netzwerke berichtet. Als Nutzen der sozialen Netzwerke wird häufig die Möglichkeit genannt, alte Kontakte wieder zu finden, neue Kontakte zu knüpfen und mit diesen Kontakten in einer zentralisierten Plattform kommunizieren zu können. Als Gefahrenpotenziale dargestellt werden im Diskurs die digitale Selbstentblößung der Mitglieder durch Preisgabe sensibler Informationen in ihren Profilen, die Auflösung des Freundschaftsbegriffs infolge der Reduktion sozialer und kontextueller Signale (Lohse, 2002, S. 67), falsche Selbstdarstellung (ebd.) sowie das Suchtpotenzial der sozialen Netzwerke (Lacy, 2008, S. 97). Führen die sozialen Netzwerke zu mehr sozialer Eingebundenheit oder zu einer technologischen Entfremdung? Zur Beantwortung dieser Frage beschäftigen sich Wissenschaftler eingehend mit der Deskription der Spezifika des Informationskanals und beobachtbarer gruppenformierender Prozesse. Sie liefern neue Konstrukte für die Ausgestaltung sozialer Netzwerke und wagen sich an Prognosen über zukünftige Entwicklungen - im Markt und im Bereich technischer Innovationen.

Dieser Artikel soll dazu einen Beitrag leisten; Nicht in Form eines Nachdenkens über soziale Netzwerke, sondern in Form eines heuristischen Rahmenmodells, wie man über soziale Netzwerke nachdenken kann. In diesem Modell verbinde ich verschiedene Systematisierungs- und Typisierungsansätze kollektiver Nutzeraktivitäten aus der Fachliteratur. Wesentliches Kennzeichen des Rahmenmodells sind die Wechselwirkungen zwischen einem techno-strukturellen Aspekt und einem human-prozessualen Aspekt von sozialen Netzwerken. Das Modell unterscheidet sich von anderen Systematisierungsansätzen virtueller Kommunikation (Schmidt, 2007; Preece, 2006; Emmer, 2005; Zerbst, 2003; Lohse, 2002; Figallo, 1998) insofern, als dass es die Evaluation globaler Ziele von Kommunikationssystem vergleichend mit deren Ergebnissen in die Analyse mit einbezieht.

Das Rahmenmodell betrachtet (1) globale Ziele und Ergebnisse des sozialen Netzwerks. Ziele können beispielsweise das Wiederfinden alter Schulfreunde oder das Knüpfen neuer Geschäftskontakte sein. Das System lässt sich daran messen, ob seine Ergebnisse den Zielen gerecht werden. Weiterhin unterscheide ich (2) zwischen techno-strukturellen und human-prozessualen Aspekten. Während erstere die technische Konfiguration des sozialen Netzwerks bezeichnen, beziehen sich letztere darauf, wie Menschen innerhalb dieser Vorgaben in dem System interagieren. Schließlich lassen sich (3) diese Interaktionen zwischen Menschen genauer fokussieren. Weil diese sich jedoch in den bestehenden Plattformen höchst unterschiedlich manifestieren, macht das heuristische Rahmenmodell hier keine Vorgaben. In seiner Konzeption ist es dazu eher gedacht, Fragen zu generieren, als Fragen zu beantworten.

Evaluation anhand der Ziele und Ergebnisse eines Systems

Der erste Schritt zur systematischen Analyse von sozialen Netzwerken besteht darin, sich bewusst zu machen, dass sie soziale Systeme sind. Der Begriff des sozialen Systems lässt sich umschreiben als Zusammenhang von aufeinander verweisenden sozialen Handlungen (Kneer & Nassehi, 1994, S. 38). Systeme haben einen großen Einfluss auf unser Leben, selbst dann, wenn wir uns ihrer nicht bewusst sind. Sie etablieren Regeln für unser Zusammenleben, garantieren uns individuelle Rechte, legen uns Restriktionen auf und weisen und Rollen für Verhalten zu, die wir im System erfüllen können (Postman & Damon, 1965, S. 10). Im Fall der sozialen Netzwerke lässt sich diese Beschreibung präzisieren, in dem man sagt, sie seien sozio-technische System (Jahnke, 2006). Soziale Prozesse in ihnen sind technisch vermittelt, wobei es sich hier um die Softwarearchitektur der Plattformen im Internet handelt. Für eine Evaluation schlagen Postman und Damon (1965) vor, Ziele und Ergebnissen in drei Schritten zu analysieren:

  1. Was sind die Ziele des Systems? Der erste Schritt liegt in der Identifikation seiner Ziele. Was soll damit erreicht werden? Welche menschlichen Bedürfnisse bedient es?
  2. Sind die Ziele des Systems wünschenswert? Der zweite Schritt besteht darin, zu entscheiden, ob diese Ziele erwünscht sind. Macht das System das Leben seiner Benutzer leichter? Vergrößert es die persönliche Autonomie seiner Benutzer? Unterstützt es die Kooperation und Kommunikation in der Gemeinschaft?
  3. Wie erfolgreich setzt das System seine Ziele um? Der dritte Schritt schließlich ist die Evaluation, in welchem Umfang das System seine Ziele erreicht. In anderen Worten: Wird das System seinem Anspruch gerecht? Arbeitet das System effizient? Arbeitet das System effektiv?

Die Unterscheidung zwischen Zielen (z.B. Vergrößerung der Eingebundenheit in den eigenen Freundeskreis) und Ergebnissen (z.B. technologische Entfremdung durch Reduktion von Freundschaft auf beiläufige Kontakte) in sozialen Netzwerken als sozio-technische Systeme ermöglicht es, sie als Ganzes zu beschreiben. Dabei werden in einem reduktionistischen Ansatz die sich ereignenden sozialen Prozesse als Black Box betrachtet. Aus meiner Sicht lohnt es sich, am Anfang der Evaluation eines sozialen Netzwerks in dem Blick zu fassen, was es nach der Intention der Betreiber für seine Mitglieder leisten soll und was es tatsächlich mit ihnen macht. Fokussiert man sich dagegen sofort darauf, wie die Mitglieder in dem sozialen Netzwerk handeln und wie sie handeln, verliert man diese globale Perspektive schnell aus den Augen.

Das Rahmenmodell soll deshalb eine systematische Herangehensweise ermöglichen, wenn wir spezifisch der Frage nachgehen, was soziale Netzwerke mit uns machen (vgl. Postman, 1993, S. 20). Welchen Einfluss haben sie auf uns? Welche Bedürfnisse erzeugen sie? Worauf prägen sie unser Denken? Wie prägen sie unser Verhalten? Wie beeinflussen sie unsere beruflichen Entscheidungen? Wie beeinflussen sie unsere sozialen Beziehungen? Wie beeinflussen sie unser Selbstbild? Sind diese Bedürfnisse, Denkweisen, Verhaltensweisen, Entscheidungen, Beziehung und Selbstkonstruktionen für uns wünschenswert? Wie können wir soziale Netzwerke so gestalten, dass ihre Ergebnisse ihren Zielen gerecht werden? Wie können wir soziale Netzwerke so gestalten, dass ihre Ergebnisse unseren Zielen als Gesellschaft gerecht werden?

Techno-struktureller Aspekt

Im Anschluss an die Evaluation von Zielen und Ergebnissen eines sozialen Netzwerks bietet es sich an, von der globalen Perspektive auf die Ebene dessen zu wechseln, wie es im Hinblick auf die Grundlagen seiner Software konstruiert ist. Im techno-strukturellen Aspekt differenziert das Rahmenmodell zwischen der Organisationsstruktur und der Kommunikationsgestaltung.

Organisationsstruktur. Zerbst (2003) nimmt einen umfassenden Systematisierungsansatz zu Online Communities vor, der sich auf die Organisationsstruktur von sozialen Netzwerken übertragen lässt. Im Gegensatz zu einem älteren Modell von Figallo (1998) bezieht er eine mögliche kommerzielle Ausrichtung eines Angebots im Internet in seine Überlegungen mit ein. Er stellt eine Unterscheidung auf, zwischen welchen Zielgruppen das soziale Netzwerk Kommunikation ermöglichen soll. Der Typologisierungsversuch bezieht sich nicht nur auf die Hauptzielgruppe, sondern auch den Initiator der Plattform. Basierend darauf lässt sich folgende Typisierung für soziale Netzwerke vornehmen:

•    Private to Private Networks
•    Business to Consumer Networks
•    Business to Business Networks
•    Corporate Virtual Networks

Analog dazu lassen sich soziale Netzwerke, die von Privatpersonen initiiert, frei von kommerziellen Motiven betrieben werden und ausschließlich Privatpersonen als Zielgruppe ansprechen, als Private to Private Networks bezeichnen. Dem gegenüber stehen Business to Consumer Networks, in denen die Betreiber ihre Mitglieder als Zielgruppe kommerzieller Interessen betrachten - entweder als Rezipienten von Werbemaßnahmen, als Käufer von mit dem sozialen Netzwerk verbundenen Produkten oder als Kunden, zu denen man den Kontakt über das soziale Netzwerk aufbaut und aufrecht erhält. Dem gegenüber stehen Business to Business Networks, die das Ziel haben, die Kommunikation zwischen mehreren Unternehmen oder zwischen deren Vertretern in einer Prozesskette zu knüpfen, zu unterstützen und zu erhalten. In Corporate Virtual Networks wiederum kommunizieren Mitarbeiter und Partner eines einzelnen Unternehmens in einem geschützten Bereich. Dies soll die interne Vernetzung und Abstimmung der Angestellten aus verschiedenen Abteilungen untereinander verbessern.

Aus diesem Ansatz lässt sich eine Reihe von Fragen ableiten: Wer ist der Initiator? Wer ist die Hauptzielgruppe? Überschneiden sich mehrere Zielgruppen? Wurde die Plattform von privaten Nutzern gegründet oder von Anbietern mit einem kommerziellen Interesse? Richtet sich die Plattform an private Benutzer, Konsumenten von Produkten, Geschäftspartner oder Mitarbeiter? Verfolgen Initiatoren und Hauptzielgruppe im sozialen Netzwerk dieselben Interessen? Ist die Plattform ein rein an gemeinsamer sozialer Interaktion ausgerichteter Zusammenschluss privater Benutzer, frei von kommerziellen Interessen? Werden in der Plattform primär die Interessen der privaten Nutzer an sozialer Interaktion mit Gleichgesinnten bedient, während ihnen niederschwellig Werbung für Produkte dargeboten wird? Oder steht die Rolle als Konsument im Vordergrund? Verfolgt die Hauptzielgruppe in dem Netzwerk andere Interessen als der Initiator? Nehmen die Mitarbeiter im firmeninternen Netzwerk freiwillig teil oder wird die Teilnahme von ihren Vorgesetzten erwartet? Dient das firmeninterne Netzwerk zur Stärkung der Zusammenarbeit zwischen der Angestellten oder Kontrolle und Überwachung der Mitarbeiter?

Kommunikationsgestaltung. Die Vielschichtigkeit des World Wide Web bringen Rössler und Beck (2001) zum Ausdruck. Sie übernehmen die in vielfältigen Kontexten eingebürgerte Ebenendifferenzierung und wenden sie auf Kommunikationsdienste an:

•    Makroebene
•    Mesoebene

Angewandt auf soziale Netzwerke beschreibt die Makroebene die Systemeigenschaften der Plattform und seine Funktionsprinzipien. Wer darf sich in dem sozialen Netzwerk anmelden? Wird allein textual oder multimodal kommuniziert? Währenddessen bezieht sich Mesoebene auf die konkrete technisch-organisationale Ausgestaltung des sozialen Netzwerks. Wie kann man sich in dem sozialen Netzwerk anmelden? Reicht eine Registrierung mit einer gültigen E-Mail-Adresse oder muss eine schriftliche Bestätigung an die Betreiber eingesandt werden? Wie funktioniert die textuale Kommunikation im sozialen Netzwerk? Ist es ein Chatsystem, eine Pinnwand, ein Forum oder eine andere Kommunikationslösung?

Human-prozessualer Aspekt

Die Ausgestaltung des sozialen Netzwerks im techno-strukturellen Aspekt hat Auswirkungen auf die dritte Ebene in der Differenzierung von Rössler und Beck, die Mikroebene. Sie beschreibt die Einzelhandlungen der Mitglieder des sozialen Netzwerks und ihre Interaktion untereinander. Welche demographischen Gruppen melden sich an? Welche Informationen über sich machen sie in ihren Profilen öffentlich? Wie aktiv kommunizieren sie miteinander? Laden sie Videos auf die Plattform? Welche Motive und Nutzenerwartungen führen sie dazu? Von welchen Faktoren hängt ihr Interesse an dem Netzwerk und damit die Dauer ihrer aktiven Mitgliedschaft ab? Basierend auf der Untersuchung der Mikroebene anhand dieser und ähnlicher Fragen lassen sich Aussagen über die Mitgliederstruktur und die Kommunikationsinhalte im human-prozessualen Aspekt von sozialen Netzwerken diskutieren.

Mitgliederstruktur. Für die zugrunde liegenden Beteiligungsanreize zur Teilnahme an sozialen Netzwerken finden Autoren ganz unterschiedliche Erklärungswege und Antworten (Emmer, 2005; Koch, 2003; Döring, 2003; Seibold, 2002; Lohse, 2002; Scholz, 1994). Scholz (1994) nennt als die Bedürfnisse nach Informationen, nach einer persönlichen Identität, nach Integration und sozialer Interaktion und nach Unterhaltung. Döring (2003) nennt als grundlegende Motivationen der Bedürfnisbefriedigung in computervermittelter Kommunikation öffentliche Selbstdarstellung, Kontaktaufnahme und Geselligkeit, Macht- und Einflussgewinn sowie Befriedigung durch prosoziales Verhalten. Koch (2003, S. 12) sieht gemeinsame Teilnahmekalküle basal darin, dass Menschen von einer Beteiligung profitieren; Einerseits in sozio-emotionaler Hinsicht und andererseits durch die Teilhabe an Wissen, auf das sie sonst keinen Zugriff hätten. Wie sich anhand der Vielfalt der Erklärungkonzepte zeigt, sind die Gründe, die Mitglieder in sozialen Netzwerken zusammenführen, ebenso vielfältig wie unsere Persönlichkeiten. Ihre Analyse ist die Grundlage für das Verständnis von sozialen Netzwerken (Lohse 2002, S. 5). Zur Beschreibung, was die Mitglieder von sozialen Netzwerken verbindet, schlage ich deshalb eine Systematik aus sechs Fragekategorien (Schnurr, 2007, S. 37) vor:

•    Wer kommuniziert?
•    Was wird kommuniziert?
•    Wie finden Mitglieder zueinander?
•    Was verbindet die Mitglieder?
•    Welchen fachlichen bzw. beruflichen Hintergrund bringen Mitglieder mit?
•    Welche gemeinsamen Ziele haben Mitglieder?

Kommunikationsinhalte. Soziale Netzwerke strukturieren das Informationsangebot, sie produzieren es aber nicht (Von dem Berge, 2007, S. 24). Von Mitgliedern beigesteuerte Inhalte machen deshalb ihren eigentlichen Mehrwert aus. Es kann sich bei diesen Inhalten um eine kurzee Nachrichten auf der Profilseite eines Mitglieds handeln, um die neuesten Bilder von geselligen Abenden oder um ein Video, das ein Mitglied während einer politischen Kundgebung mitgeschnitten hat und im sozialen Netzwerk verbreitet. Für Wissenschaftler sind dies die Daten, die in den meisten Fällen für empirische Analysen herangezogen werden. Zur Systematisierung dieser Kommunikationsinhalte schlage ich eine an Flick (2005, S. 264) angelehnte, ebenfalls aus sechs Fragekategorien bestehende Systematik vor:

•    Was? Worum geht es hier? Welches Phänomen wird angesprochen?
•    Wer? Welche Akteure sind beteiligt? Welche Rollen nehmen sie ein?
•    Wozu? Welche Ziele verfolgen die Akteure mit ihren Beiträgen?
•    Wie? Welche Aspekte des Phänomens werden angesprochen? Welche Aspekte werden nicht thematisiert?
      Wie interagieren die Akteure miteinander?
•    Wann? Zu welchen Zeitpunkten kommunizieren die Akteure wie lange miteinander?
•    Womit? Welche Begründungen werden gegeben? Welche rhetorischen Mittel, Taktiken und Strategien wenden die
      Akteure an, um ihre Ziele zu erreichen?

Wechselseitigkeit der beiden Aspekte

Um die Prozesse in sozialen Netzwerken adäquat beschreiben zu können, gilt es, die Wechselseitigkeit der beiden Aspekte zu berücksichtigen. Erklärungen müssen beinhalten, wie sich technische Strukturen auf humane Prozesse auswirken, und umgekehrt, wie humane Prozesse die technischen Strukturen auf der Makrobene des sozio-technischen Systems reproduzieren (Schmidt, 2007, S. 17). Eine Fokussierung auf lediglich einen der beiden Aspekte würde bedeuten, auszublenden, wie dieser durch den anderen Aspekt konstituiert wird.

Der techno-strukturelle Aspekt setzt Rahmenbedingungen, ob und wie sich die Mitglieder in dem System austauschen können. Architektur kann Verhalten von Benutzern im human-prozessualen Aspekt prägen (Solove, 2007, S. 200), zwar nicht im Sinne einer Steuerungslogik, aber im Sinne einer situativen Ermöglichung (Reinmann, 2005, S. 165). Technische Voraussetzungen können ein Verhalten ermöglichen, anregen oder behindern - nicht steuern.

Aber auch der human-prozessuale Aspekt hat Auswirkungen auf den techno-strukturellen Aspekt. Benutzer haben ihre eigenen Ziele und Bedürfnisse. Wenn sie mit Einschränkungen eines Systems unzufrieden sind, rebellieren sie entweder dagegen oder sie verlassen es wieder. Die Betreiber von sozialen Netzwerken tun gut daran, in begründeten Fällen auf ihre Nutzer zu hören und ihr System anzupassen - seien dies die Funktionen auf der Mesoebene oder vielleicht sogar die globalen Ziele des Systems auf der Makroebene.

Zusammenfassung

Führen die sozialen Netzwerke zu mehr sozialer Eingebundenheit oder zu einer technologischen Entfremdung? Das in diesem Artikel vorgeschlagene, heuristische Rahmenmodell liefert dazu keine Antworten. Es führt womöglich aber zu den richtigen Fragen, um in diesem unübersichtlichen und sich fortwährend weiterentwickelnden Feld zu Antworten zu gelangen. Es liefert eine globale Perspektive für die Evaluation sozio-technischer Systeme, ob ihre Ziele den tatsächlichen Ergebnissen gerecht werden und ob ihre Ergebnisse überhaupt wünschenswert sind. Für das Zustandekommen dieser Ergebnisse sind die Wechselwirkungen zwischen den techno-strukturellen und human-prozessualen Aspekten der sozialen Netzwerke entscheidend. Nur wenn man beide Aspekte gleichermaßen berücksichtigt, lassen sich sinnvolle Erklärungen dafür finden, warum manche soziale Netzwerke enge soziale Beziehungen fördern, während andere durch schwach ausgeprägte Bindungen von geringer interpersonaler Reziprozität geprägt sind. Für diese Fragen bietet das Rahmenmodell eine heuristische Grundlage.


Literatur
  • Busemann, K. & Gscheidle, C. (2009). Web 2.0: Communitys bei jungen Nutzern beliebt. Ergebnisse der ARD/ZDF-Onlinestudie 2009. In: Media Perspektiven, 7/2009, S. 356-364. Frankfurt am Main. Vertrieb Media Perspektiven.
  • Döring, N. (2003). Sozialpsychologie des Internet: Die Bedeutung des Internet für Kommunikationsprozesse, Identitäten, soziale Beziehungen und Gruppen (2. vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage). Göttingen: Hogrefe.
  • Emmer, M. (2005). Politische Mobilisierung durch das Internet?: Eine kommunikationswissenschaftliche Untersuchung zur Wirkung eines neuen Mediums. München: Fischer.
  • Fisch, M. & Gscheidle, C. (2008). Mitmachnetz Web 2.0: Rege Beteiligung nur in Communitys. Ergebnisse der ARD/ZDF-Onlinestudie 2008. In: Media Perspektiven, 7/2008, S. 356–364. Frankfurt am Main. Vertrieb Media Perspektiven.
  • Flick, U. (2005). Qualitative Sozialforschung: Eine Einführung (3. vollständig überarbeitete und erweiterte Neuausgabe). Reinbek bei Hamburg: Rowohlt; Rowohlt-Taschenbuch-Verlag.
  • Jahnke, I. (2006). Dynamik sozialer Rollen beim Wissensmanagement: Soziotechnische Anforderungen an Communities und Organisationen. Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag.
  • Kneer, G. & Nassehi, A. (1994). Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Eine Einführung (2. Auflage). München: Fink.
  • Koch, J. Hartmut (2003). Unterstützung der Formierung und Analyse von virtuellen Communities. Frankfurt am Main: Lang.
  • Lacy, S. (2008). The stories of Facebook, YouTube & MySpace: The people, the hype and the deals behind the giants of Web 2.0. Richmond: Crimson.
  • Lohse, C. (2002). Online Communities: Ökonomik und Gestaltungsaspekte für Geschäftsmodelle. Dissertation. Technische Universität: München.
  • Postman, N. (1993). Technopoly: The surrender of culture to technology. New York: Knopf.
  • Postman, N. & Damon, H. C. (1965). The Languages of Discovery. New York: Holt, Rinehart and Winston.
  • Preece, J. (2006). Online Communities: Designing Usability, Supporting Sociability. Chichester: John Wiley & Sons; Wiley.
  • Reinmann, G. (2005). Blended learning in der Lehrerbildung: Grundlagen für die Konzeption innovativer Lernumgebungen. Lengerich: Pabst Science.
  • Rössler, P. & Beck, K. (2001). Aufmerksamkeitskalküle bei verschiedenen Modi der Online-Kommunikation. In K. Beck & W. Schweiger (Hg.), Internet research: Band 1, Attention please! Online-Kommunikation und Aufmerksamkeit (S. 141–158). München: Fischer.
  • Schmidt, J. (2007). Blogging Practices: An analytical framework. In: Journal of Computer-Mediated Communication, Jahrgang 12, Nr. 4. URL: http://jcmc.indiana.edu/vol12/... [16.12.2008]
  • Schnurr, J.-M. (2007). Entwicklung einer Typologie von Mitgliedern in der Online-Community Through The Looking Glas. In: w.e.b.Square, 03/2007. URL: http://websquare.imb-uni-augsb... [31.05.2009]
  • Scholz, C. (1994). Personalmanagement, informationsorientierte und verhaltenstheoretische Grundlagen. München: Vahlen.
  • Seibold, B. (2002). Klick-Magnete: Welche Faktoren bei Online-Nachrichten Aufmerksamkeit erzeugen. München: Fischer.
  • Solove, D. J. (2007). The future of reputation: Gossip, rumor, and privacy on the Internet. New Haven: Yale University Press.
  • Von dem Berge, M. (2007). Aufmerksamkeit im YouTube-System: Eine Analyse ihrer Bestimmungsgrößen. Diplomarbeit. Universität der Künste: Berlin.
  • Zerbst, S. (2003). Virtuelle Communities zur Vermarktung kommerzieller Produkte. Lohmar, Köln: Eul.

Schnurr, J. (2009). Heuristisches Rahmenmodell sozialer Netzwerke. Konzept für die systematische Evaluation von techno-strukturellen und human-prozessualen Aspekten einer medialen Angebotsform. w.e.b.Square, 05/2009. URL: http://websquare.imb-uni-augsburg.de/2009-05/2

DruckversionDruckversion


Bewerten
0
Noch keine Bewertungen
Your rating: Keine

Kommentar hinzufügen

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.
CAPTCHA
Diese Frage dient dazu festzustellen, ob Sie ein Mensch sind und um automatisierte SPAM-Beiträge zu verhindern.
Image CAPTCHA
Enter the characters shown in the image without spaces, also respect upper and lower case.