GENESIS 2.0
Wie wir uns in sozialen Netzwerken selbst erschaffen
Im Anfang war der moderne Mensch. Der Mensch, der sich mit allem umgab. Der statt sich die Erde Untertan zu machen, selbst Untertan wurde. Geknechtet von Zwängen des Konsums, der Öffentlichkeit und des ständigen Wandels.
Identität liegt in unserer Gesellschaft mehr denn je in der eigenen Verantwortung. Globalisierung, wachsende soziale Mobilität, größere Flexibilität im Arbeitsleben, Unsicherheit sozialer Beziehungen - all das führt dazu, dass traditionelle Determinanten der Identitätsbildung an Relevanz verlieren (vgl. Buckingham, 2008, S. 1). Identität ist etwas Formbares geworden, „identity is something we do" (ebd., S. 8). Im Internet tun wir nun das bewusst, was wir sonst unbewusst tun. In sozialen Netzwerken wie beispielsweise Online-Communities gestalten wir uns selbst.
Während wir offline immerhin in vom Leben gezeichneten Körpern stecken, ist unser Netzwerk-Profil online zunächst ein unbeschriebenes Blatt. Wer in dieser Welt existieren will, muss schöpferisch tätig werden - Willkommen zu Genesis 2.0!
Und er sah, dass es nötig war.
Am ersten Tag fasste der moderne Mensch den Entschluss. Er sollte eine virtuelle Identität bekommen. Er fand sie in sozialen Netzwerken.
Ein Schritt, den in den vergangenen zehn Jahren Millionen Menschen aus allen Ländern der Erde gingen. Seit Mitte der 1990er Jahre in Grundzügen existent, finden die Social Networks 1997 mit SixDegrees.com einen bedeutenden Vertreter. Hier besteht zum ersten Mal die Möglichkeit, ein eigenes Profil anzulegen - ein entscheidendes Charakteristikum der Netzwerke. Zur Vernetzung von Menschen auf beruflicher Ebene startet 2001 Ryze.com, dem mit Friendster bald ein weiteres soziales Äquivalent folgen soll. Die wahre Initialzündung für den Netzwerk-Boom im Internet erfolgt jedoch zwei Jahre später. Das Jahr 2003 bringt der Web-Welt unter anderem MySpace, Facebook, Xing und Flickr und somit viele der auch aktuell bedeutendsten Online-Plattformen. Das Wettrüsten der Medienmogule mit Beteiligungen an sozialen Netzwerken seit diesem Durchbruch ist nur ein Indiz für einen beispiellosen Siegeszug (vgl. Röll, 2008, S. 213).
Im Unterschied zu Foren oder Chats bauen klassische Social Networks nicht mehr auf Pseudonymen, sondern auf der echten Identität ihrer Mitglieder auf (vgl. Röll, 2008, S. 213). Die Netzwerker werden hier zu „Darsteller[n] auf einer gesellschaftlichen Bühne, ohne dass, ihnen fertige Drehbücher geliefert werden" (Keupp, 2000, zitiert nach Röll, 2008, S. 216).
Die Wahl des sozialen Netzwerks hängt dabei von den unterschiedlichen Zielgruppen und primären Funktionalitäten der Plattformen ab. 5,25 Millionen „Unique User", registrierte und regelmäßige Nutzer, bilden nach aktuellen Zahlen der Arbeitsgemeinschaft Online Forschung in Deutschland derzeit etwa das Studentennetzwerk studiVZ. Neben Profilangaben bietet sich Studierenden hier die Möglichkeit, über die Funktionen Pinnwand, Nachrichten, Plaudern, Gruppen und Gruscheln zu kommunizieren. Auch wenn studiVZ gemeinsam mit den analog aufgebauten Verzeichnissen meinVZ und schülerVZ in Deutschland eine klare Dominanz ausübt zusammen über 15 Millionen Nutzer, geht die Rolle des Branchenprimus an wer-kennt-wen.de, welches im dritten Quartal 2009 stolze 6,75 Millionen Unique User auf sich vereinte (vgl. AGOF, 2009).
Nicht weit dahinter konnte sich in diesem Zeitraum Facebook platzieren. Die insbesondere für länderübergreifende Beziehungen genutzte Plattform verzeichnete im November 5,4 Millionen aktive deutsche Nutzer. Auch weitere auf soziale Beziehungen angelegte Online-Communities wie StayFriends (5,70 Mio. User), Lokalisten (2,10 Mio.) und Kwick (1,28 Mio.) spielen auf dem Netzwerk-Sektor in Deutschland eine gewichtige Rolle. 4,86 Millionen User hierzulande sind nach der jüngsten AGOF-Erhebung auf dem 2003 von Tom Anderson gegründeten MySpace registriert. Hier suchen Mitglieder soziale wie geschäftliche Kontakte, kommunizieren über Kommentare, Nachrichten, Blogs und Bulletins1. Die Möglichkeit, Audio- und Videodateien einzubinden, führt dazu, dass professionelle Künstler prominent im Netzwerk vertreten sind und ihren Fans so die Chance geben, zumindest auf der Plattform offiziell mit ihren Idolen „befreundet" zu sein. Wer von Anfang an rein geschäftliche Verbindungen knüpfen oder pflegen möchte, kann wie 3,4 Millionen Nutzer im deutschsprachigen Raum auf das Business-Netzwerk Xing zurückgreifen. Stellenangebote, Aufträge und Informationen werden online kommuniziert, ergänzt um ein berufliches Portfolio, welches den Profilangaben der sozialen Netze entspricht (vgl. Röll, 2008).
Und er sah, dass es einfach war.
Am zweiten Tag wurde der moderne Mensch selbst zum Nutzer. Er betrat eine teils vorgezeichnete Welt, die er nun mit persönlichen Angaben ins Leben rufen sollte. Er wurde ein Teil des Ganzen - mit seinem eigenen Profil.
Welche Möglichkeiten haben wir denn eigentlich, uns auf unserer Netzwerkseite wirklich realitätsgetreu darzustellen? Schmidt, Paus-Hasebrink und Hasebrink (2009) haben ihr Augenmerk auf die sozialen Netzwerke MySpace, studiVZ und schülerVZ gerichtet und diese auf deren Individualitätsgrad untersucht. Diese Seiten bieten hauptsächlich die Möglichkeit, Beziehungen zu knüpfen und miteinander zu kommunizieren. Um potenziellen Online-Gesprächspartnern ein möglichst präzises Bild von sich selbst zu geben, ist es wichtig, in der Online-Community so viele persönliche Angaben wie möglich zu machen (vgl. ebd. S. 210 f.).
Der Netzwerkneuling mag zunächst einmal skeptisch werden bei dem Gedanken, soviel Information über sich Preis zu geben. Beim Anlegen des Accounts wird er nicht nur nach persönlichen Vorlieben in Sachen Musik und Film gefragt. Bei studiVZ kann er sogar seinen Stundenplan eintragen. Solche Angebote dienen dazu, andere Nutzer ausfindig zu machen, in diesem Fall Studierende, die dieselben Lehrveranstaltungen besuchen (vgl. Schmidt et al., S. 211). Somit beginnt der Nutzer zunehmend, wahrscheinlich sogar mehr oder weniger bewusst, sich selbst zu reflektieren. Wer überlegt sich sonst schon täglich, welche Musik er denn nun am liebsten hört und zählt diese dann leise auf? Oder lässt seine bisherige Karriere, angefangen im Kindergarten, noch einmal vor seinem geistigen Auge ablaufen? Der Beitritt in ein soziales Netzwerk erfordert also zwingend ein Nachdenken über sich selbst (vgl. Döring, 2003, S. 400). Aber nicht nur was wir angeben, gehört zur Selbstreflexion, wenn man ein solches Profil anlegt. Viel mehr stellt sich auch oft die Frage, ob wir etwas angeben. „The mere act of creating a profile on a social network site requires some self-reflection, if only to consciously decide what to fill in or ignore when prompted with questions and forms." (Boyd, 2008, S. 129)
Und er sah, dass er nicht alleine war.
Am dritten Tag machte sich der Nutzer nun auf, um Freunde zu finden. Anfangs durchstöberte er das Netzwerk ausschließlich nach alten Bekannten. Mit der Zeit wurde er mutiger.
Soziale Netzwerke im Internet dienen in erster Linie als Raum für Kommunikation und zur Pflege sozialer Kontakte. Solche Online-Communitys erfüllen ihren Zweck nur, wenn man mit anderen Mitgliedern in Kontakt tritt und virtuelle Freundschaften knüpft. Diese Freunde stammen anfangs überwiegend aus der Offline-Welt. Doch mit der Zeit begreifen die Nutzer die Dimensionen des World Wide Web und beginnen, sie für sich zu nutzen. Schließlich macht gerade die leichte Überbrückung von Distanzen das „Erfolgsrezept" sozialer Netzwerke aus. Die Suche nach neuen Freunden beginnt zumeist an der eigenen Universität und Schule, weitet sich immer stärker aus und lässt schließlich die Grenzen des alltäglichen Umfelds hinter sich. Der Nutzer bewegt sich also weg von der eigenen Identitätsarbeit hin zum eigentlichen Beweggrund, einem Netzwerk beizutreten: Interaktion mit anderen Nutzern.
Wie solch ein Beziehungsmanagement aussehen kann, entscheidet nicht nur der Nutzer selbst, sondern zum großen Teil auch der Aufbau der jeweiligen Plattform. Wer sich nur ein wenig mit den populärsten sozialen Netzwerken beschäftigt, findet schnell seine persönlichen Vorlieben. So nutzen die routinierten „Kontaktpfleger" (Schmidt et al., S. 210) und die wenig interessierten „Routinenutzer" (Schmidt et al., S. 210), für die der Kontakt mit bereits bekannten Usern aus der Offline-Welt an erster Stelle steht, zumeist studiVZ. Dagegen finden die „außenorientierten Selbstdarsteller" (Schmidt et al., S. 210), welche möglichst viele neue Online-Bekanntschaften - bereits bekannte oder gänzlich unbekannte - machen möchten, ihren Platz bei MySpace.
Der Grund hierfür liegt vor allem bei den Gestaltungsmöglichkeiten der einzelnen Profile. Während studiVZ eine speziell auf den Studierenden vorgefertigte Maske besitzt, die durch persönliche Angaben ergänzt werden kann, finden sich bei MySpace deutlich mehr Gelegenheiten selbst kreativ zu werden. Mit Hilfe der Programmiersprache HTML, kann der Hintergrund jedes Profils bspw. mit persönlichen Fotos gestaltet werden. Außerdem besteht die Möglichkeit, den Lieblingssong beim Aufruf der Seite abspielen zu lassen (vgl. Schmidt et al., 2009, S. 211 ff.). Auch beim Thema „Freundschaften" unterscheiden sich beide Netzwerke deutlich. StudiVZ kategorisiert nach Hochschulen, wobei Freunde derselben Universität an erster Stelle stehen. Bei MySpace hingegen kann der User seine „Topfreunde" selbst bestimmen. Diese befinden sich dann für jeden sichtbar auf der Profilseite.
Ganz gleich, in welchem soziale Netzwerk - man betritt dabei immer einen Mikrokosmos im World Wide Web. Gerade virtuelle Freunde machen diese kleine Welt lebendig. „We are friends, right?" (Boyd, 2008, S. 211) Eine Frage, wie sie Kindergartenkinder stellen. Dieses Ritual wird im Netz ersetzt - der „Freundschaftsantrag" erfolgt virtuell. Die Antwort sollte wohl überlegt werden - schließlich gewährt man den befreundeten Mitgliedern in der Regel den vollen Zugang zu persönlichen Daten auf der Profilseite. Damit kann die Privatsphäre online individuell verwaltet werden (vgl. ebd.).
Und er sah, dass er unbeachtet blieb.
Am vierten Tag betrachtete der User sein bisheriges Werk. Er war unzufrieden. Bis jetzt traf er nur auf wenig Resonanz. Er wünschte sich mehr Aufmerksamkeit und beschloss, etwas mehr von sich preiszugeben.
Im Netz interessant zu wirken, ist gar nicht so einfach. Gerade bei Netzwerken mit vorgefertigten Masken fällt es schwer, aus der Masse herauszustechen. Eine weitere Möglichkeit, die individuelle Selbstdarstellung weiter auszubauen, bietet der Beitritt zu sogenannten Gruppen, welche vorwiegend bei studiVZ und Facebook präsent sind. Die Gruppe „Abends ARONAL - Morgens ELMEX... mal was riskieren!" zählt mittlerweile 45776 Mitglieder, die sich innerhalb der Gruppe unter anderem über die Risiken des alltäglichen Lebens austauschen (vgl. studiVZ, 2009).
Hierbei lässt sich ein interessantes Phänomen beobachten: Zwar streben wir alle nach Individualität, dennoch wollen wir auch im sozialen Netzwerk nicht alleine sein. Die Mitgliedschaft in einer Netzwerk-Gruppe kreiert kollektive Identität (vgl. Döring, 2003, S. 400). Je mehr Nutzer einer Gruppe angehören, desto bestätigter fühlen wir uns in unseren Meinungen und Einstellungen. Diese kollektiven Meinungen werden vor allem in Gruppen wie „Bundesweiter Bildungsstreik 2009" begrüßt, da sich diese auch im realen Leben formieren, um dort gemeinsame Ziele zu erreichen (vgl. studiVZ, 2009). Dagegen beschränkt sich der Beitritt zu Gruppen wie „Freunde des gepflegten Sarkasmus" rein auf die Aktivitäten im Netz. Solche Gruppen sollen lediglich den Nutzer näher beschreiben, sei es in Sachen Humor, Hobbys oder Musikgeschmack (vgl. ebd.).
Selbstdarstellung geschieht aber nicht mehr nur durch die Zugehörigkeit zu verschiedenen Gruppen oder Angaben über persönliche Interessen. Das soziale Netzwerk Twitter fährt seit 2006 mit „Microblogging" auf. Dieser Echtzeit-Dienst fungiert beinahe schon als öffentliches Tagebuch. 140 Zeichen bietet Twitter seinen Nutzern, um per Computer oder mobilem Endgerät sämtliche Geistesblitze mitzuteilen (vgl. Twitter, 2009). Angelehnt daran kann bei MySpace unter „Was machst du gerade" jeder spontane Einfall ins World Wide Web hinausposaunt werden. Dasselbe passiert bei studiVZ seit kurzer Zeit im „Buschfunk". Es besteht also die Möglichkeit, allen virtuellen Freunden mitzuteilen, was man gerade tut. Viele vergessen dabei aber, dass die meisten Online-Freundschaften keinesfalls mit denen der Offline Welt gleichzusetzen sind.
Der virtuelle Freundschaftsbegriff wirkt gerade angesichts der oft seitenlangen Freundschaftslisten beinahe inflationär. Viele virtuelle Freunde kennt man persönlich vielleicht gar nicht. Paradoxerweise teilt man aber gerade mit ihnen die intimsten Momente. „Und mit den meisten Menschen würde man im wahren Leben noch nicht einmal einen Kaffee trinken gehen, zeigt ihnen aber plötzlich seine privaten Urlaubsfotos." (Zeit Online, 2009). Wie schnell so eine Onlinefreundschaft auch wieder zu Ende sein kann, zeigt die Aktion einer amerikanischen Fastfoodkette. „Tauscht eure Facebook-Freundschaften gegen einen Hamburger!". Für zehn gekündigte Facebook-Freundschaften gab es einen Burger. Diese PR-Aktion wurde rege angenommen und zeigt anschaulich, wie unbedeutend Freundschaften im Netz sein können (vgl. ebd.).
Und er sah, dass es bunt werden muss.
Am fünften Tag tobte sich der Netzwerker auf seinem Profil multimedial aus. Er postete Fotos, Links, Videos und Podcasts.
„Ein Bild sagt mehr als tausend Worte" (Wikipedia, 2010). In sozialen Netzwerken gilt besonders derjenige etwas, der Privates oder sogar Intimes von sich preis gibt (vgl. Patalong, 2009, S. 2). Bild und Ton transportieren das am authentischsten. Kinderleicht können Nutzer ganze Alben eigener Fotos und Videos mit Freunden teilen. Wer sich nicht nur auf eigenes Material beschränken möchte, kann auf den Rest der multimedialen Spielwiese Internet zurückgreifen. So besteht die Möglichkeit, sich mit jedem denkbaren Ort im Netz zu verlinken und in manchen Fällen sogar Inhalte direkt auf die Profilseite zu posten. Besonders beliebt ist zum Beispiel das Einbinden von YouTube Videos. Solche medialen Anreicherungen funktionieren im Prinzip auf dieselbe Weise wie die Steckbrief-Rubriken Lieblingsband, Lieblingsfilm, Lieblingszitat und dergleichen. In dem man seinen Freunden zeigt, auf was man selbst aufmerksam geworden ist, was man besonders schön, lustig oder interessant findet, kommuniziert man Meinungen und Vorlieben (vgl. Boyd, 2008, S. 132).
Es sind gerade die multimedialen Inhalte auf den Profilseiten von Jugendlichen, die in der Erwachsenenwelt Bedenken auslösen. Wenn pubertierende Mädchen Bilder, die sie in Reizwäsche zeigen, auf ihr Profil laden, wird das von Jugendschützern als skandalöses Verhalten wahrgenommen (vgl. Patalong, 2009, S. 1). Ähnlich stoßen Videos, die den starken Alkoholkonsum am letzten Wochenende für die Ewigkeit festhalten, auf große Kritik. Die Freizügigkeit, mit der Jugendliche scheinbar mit privaten Informationen und Bildern umgehen, missfällt Eltern und Pädagogen.
Forderungen nach Aufklärung über mögliche Konsequenzen und Datenschutz werden laut: Eine High-School in den USA ging sogar soweit, zwei Schülerinnen zur Strafe für ihr sexuell anstößiges Verhalten in Facebook die Teilnahme am Cheerleaderteam zu verbieten (vgl. ebd., S. 2). Das Verhältnis von Privatsphäre und Öffentlichkeit ist Stoff eines Generationenkonflikts. Was für die Generation Social Network Lappalien der Alltagskommunikation sind, verurteilen Ältere als skandalös und gefährlich (vgl. ebd., S. 1). Stern (2008) bemängelt, dass sich die Debatte viel zu sehr darauf konzentriert, was Jugendliche online von sich preisgeben, anstelle von warum sie das tun.
Boyd (2008) vergleicht Profilseiten in sozialen Netzwerken mit beklebten Schulmappen, Schließfächern und Posterwänden über dem Bett. So wie Jugendliche Gegenstände mit kollagenartig zusammengebastelten Medien-Artefakten beklebt haben, um ihrer Individualität Ausdruck zu verleihen, tun sie das heute auf ihren Profilseiten. Während Jugendliche ihren Familienmitgliedern den Zugang zu ihrem Zimmer nur schlecht verwehren können, finden sie in sozialen Netzwerken einen Raum vor, der scheinbar völlig privat ist. This is my space! - Profilseiten können völlig frei von elterlicher Kontrolle gestaltet werden, Zimmerwände nicht. Dass ihr Netzwerkprofil für ein großes Publikum zugänglich ist, hindert Jugendliche nicht daran, es als privat anzusehen. Es mag paradox klingen, aber Jugendliche streben offenbar danach, gleichzeitig öffentlich und privat zu sein. Während sie vor Freunden die Öffentlichkeit suchen, wollen sie genau diese Öffentlichkeit mit ihren Eltern nicht teilen (vgl. ebd., S. 137 ff.).
Was Teenager auf ihren Profilseiten veröffentlichen, ist stark davon abhängig, für wen sie dies tun. Eltern gehören in jedem Fall nicht zum intendierten Zielpublikum (vgl. Boyd, 2008, S. 144). Entscheidend bei der Bewertung von Inhalten in sozialen Netzwerken ist daher der Kontext. „Out of context, some of what appears is not quite what it seems." (ebd., S. 143) Mit ihren Netzwerk-Identitäten wollen Jugendliche in erster Linie gleichaltrige Freunde ansprechen, auch auf die Gefahr hin, dadurch Empörung beim nicht gewünschten Publikum auszulösen (vgl. ebd., S. 144). Pubertierende Mädchen, die sich in weiblichen Rollenklischees ausprobieren, sind nichts Neues. Wenn sie das heute auf Facebook tun, dann weil es ihnen ausgerechnet dort weniger riskant, gleichzeitig aber wirkungsvoller als in anderen Umgebungen erscheint (vgl. Stern, 2008, S. 113). Denn hier können sie sich außerhalb der Kontrolle Erwachsener an einem breiten Publikum Gleichaltriger ausprobieren.
Und er sah, dass es außer Kontrolle geriet.
Am sechsten Tag vollendete der Netzwerker das Profil, das er geschaffen hatte, und wartete auf Feedback.
Wer viel Zeit und Energie in die Gestaltung seiner Profilseite steckt, will natürlich wissen, wie er bei seinem Publikum ankommt. Mangelndes Feedback führt gerade bei jüngeren Nutzern zu Verunsicherung und der Angst, nicht so wahrgenommen zu werden, wie beabsichtigt (vgl. Boyd, 2008, S. 128 f.).
Man kann sich bei der individuellen Darstellung noch so viel Mühe geben: Jede Eigenschaft, die man sich selbst zuschreiben, ist wertlos ohne Bestätigung durch andere. Identität ist kein statisches Phänomen, das man selbst festlegen kann. Wer man ist, wird letztlich wesentlich davon beeinflusst, wie man von anderen wahrgenommen wird und welche Rückmeldung diese geben (vgl. Buckingham, 2008, S. 6). In Interaktion mit den Mitmenschen verhandelt man das eigene Selbst immer wieder auf ein Neues, reagiert auf Feedback und passt sich entsprechend an. „Depending on how they are received, people alter their behavior to increase the likelihood of being perceived as intended." (Boyd, 2008, S. 119)
Auch Online-Selbstbilder konstituieren sich in Dialogen. Online-Identitäten sind jedoch körperlos; so fallen für die Selbstdarstellung wichtige Instrumente wie Körpersprache, Betonung und Aussprache weg. Während man sich offline immer in einem bestimmten Kontext befindet und durch explizites Feedback, sowie implizite Rückmeldungen immer unmittelbar mit den Reaktionen der Mitmenschen konfrontiert wird, schwebt das Online-Ich gewissermaßen im leeren Raum (Boyd, 2008, S. 121 f.).
Vieles, was für die Selbstdarstellung im echten Leben selbstverständlich ist, hat in medialen Umgebungen keine Geltung. Was Soziologen als „Impression Management" (Buckingham, 2008, S. 6) bezeichnen, ist online daher viel schwieriger. Denn der Kontext, indem wir uns bewegen, bleibt unklar. Wer die Onlineaktivitäten mit verfolgt, ist oft unersichtlich. Gerade die Mitmenschen sind aber ausschlaggebend dafür, wie man sich verhält und welche Rolle man in einer bestimmten Situation einnimmt. Zudem ist Feedback von denjenigen, die zuschauen, nur eingeschränkt möglich (Boyd, 2008, S. 121 f.). Zwar bieten soziale Netzwerke mittlerweile zahlreiche Interaktionsmöglichkeiten an. Ein großer Unterschied zur Offline-Welt besteht jedoch darin, dass Online-Feedback freiwillig und meist zeitlich verzögert stattfindet. Spontane, implizite Reaktionen auf Verhalten fallen völlig weg, jeder Kommentar kann theoretisch wohl überlegt werden. Da die meisten Nutzer für alle Netzwerkmitglieder sichtbare Kommentare nur von „Freunden" zulassen, kann man zudem eine Tendenz zu positivem Feedback beobachten. Es ist schließlich davon auszugehen, dass sich befreundete Mitglieder untereinander grundsätzlich wohlwollend eingestellt sind. Keine Rückmeldungen zu bekommen, ist daher tendenziell als negatives Feedback zu werten (vgl. Stern, 2008, S. 111). Kein Wunder also, dass sich Jugendliche gegenseitig mit immer noch skandalöseren Aktionen übertreffen wollen, um Aufmerksamkeit zu erlangen - wohl ein Phänomen jeglicher medienvermittelter Kommunikation (vgl. Patalong, 2009, S. 2). Ausbleibendes Feedback kann aber auch andere Gründe haben. Manchmal fehlt es einfach an der Zeit. Zudem ist nicht jeder Nutzer gleich aktiv; in der Regel bekommen gerade die, die selbst fleißig kommentieren, viel Rückmeldung auf ihre Netzwerkaktivitäten.
Den eingeschränkten Feedbackkanälen für das Aushandeln der Identität im Internet tritt die leichte Editierbarkeit der Online-Selbstdarstellungen gegenüber. Auf die Rückmeldungen, die man online bekommt, kann man scheinbar viel wirkungsvoller reagieren. Sollte man nicht so wahrgenommen werden wie gewünscht, lässt sich die eigene Darstellung entsprechend korrigieren. Das Online-Ich ist gewissermaßen editierbar. Ein Klick und der persönliche Musikgeschmack ändert sich den Präferenzen der Wunschclique entsprechend. Wie glaubwürdig das ist, bleibt fraglich - mit Sicherheit aber glaubwürdiger als im echten Leben. Online sind die Kommunikationspartner durch einen Bildschirm voneinander getrennt, das lässt mutiger werden. Gerade Jugendliche in der Phase der Identitätsfindung nehmen das Experimentieren mit der eigenen Identität im Internet daher als risikoloser wahr (vgl. Stern, 2008, S. 113).
Doch auch mit viel Feedback und entsprechenden Anpassungsmaßnahmen hat man die eigene Identität auch im Internet nicht ausschließlich selbst in der Hand. Sichtbares Feedback, beispielsweise Kommentare auf der Pinnwand einer Profilseite, geben nicht nur dem Besitzer des Profils selbst, sondern auch allen anderen Besuchern der Seite neue Informationen preis. Dass Netzwerkmitglieder teilweise ohne ihr Einverständnis mit Inhalten verlinkt werden können, macht noch deutlicher, dass Online-Profile nicht frei von Fremdbestimmung sind. Mitglieder gestalten die Profile ihrer Freunde aktiv mit (vgl. Boyd, 2008, S. 135 f.). Boyd (2008, S. 125) definiert Profile in sozialen Netzwerken daher folgendermaßen: „To me, profiles locate and are the combination of controlled self-descriptions in the context of social connections."
Die Mitgestaltung der Profilseiten durch Dritte spielt auch bei der Frage, inwieweit sich Menschen in sozialen Netzwerken idealisieren, eine entscheidende Rolle. Da sich befreundete Mitglieder in sozialen Netzwerken in der Regel auch im Offline-Leben kennen, bleibt Idealisierung bei der Selbstdarstellung nicht unbemerkt. Wer lügt, fliegt auf und bekommt negatives Feedback. Freunde dazu zu überreden, das „Spiel" der Selbstidealisierung mitzuspielen, dürfte recht mühsam sein (vgl. Zeit Online, 2009). Aus demselben Grund sind auch kulturpessimistische Bedenken, dass Online-Aktivitäten zu Identitätsverlust führen können, bei Sozialen Netzwerken unbegründet (vgl. Boyd, 2008, S. 125). Die Hochzeit der virtuellen Maskierung, der anonymen Decknamen und gefälschten Accounts ist längst vorbei (vgl. Zeit Online, 2009). Der Trend geht dahin, sich so selbsttreu wie möglich darzustellen (vgl. ebd.).
Die Gründe dafür sind vielfältig: Nutzer sozialer Netzwerke beziehen sich stark auf ihre Offline-Welt. Sie wollen „echte" Beziehungen pflegen, zum Beispiel alte Bekannte wiederfinden oder neue Kontakte knüpfen, die für das Studium oder bei der Jobsuche nützlich sind. Letztendlich handelt es sich bei Netzwerkprofilen um Repräsentanten, die den dahinter stehenden Personen dazu dienen, in medialen Umgebungen zu agieren. Abweichungen der Online- von der Offline-Identität werden gezielt als Mittel für Humor und Selbstironie genutzt oder sogar zum Schutz von persönlichen Daten eingesetzt. Denn diejenigen, die mit dem eigenen Profil erreicht werden sollen, sind meist nicht auf private Informationen aus dem Netz angewiesen, sondern kennen den Nutzer bereits aus dem offline Leben. Eine gewisse Idealisierung ist aber dennoch möglich - mit einem lachenden Profilbild kann man sich beispielsweise ganz leicht dauerhaft gut Laune zaubern. Spielraum bei der Selbstdarstellung in sozialen Netzwerken besteht letztendlich hauptsächlich dahingehend, dass man manche Selbstaspekte stärker oder schwächer zum Ausdruck bringen kann (vgl. Boyd, 2008, S. 128 ff.). Ansonsten versucht ein jeder, wie im Offline-Leben auch, sich so positiv wie möglich darzustellen „They are simply seeking to represent themselves in the most positive light possible." (ebd., S. 128)
Fest steht, dass soziale Netzwerke im Internet einen festen Platz im Alltag jüngerer Generationen eingenommen haben. In nur sechs Tagen kann man sich also virtuell ein zweites Mal erschaffen. Je nach Anspruch an das neue Ich reichen dazu auch sechs Stunden oder gar Minuten. Während die einen nur das allernötigste von sich preisgeben, werden andere fast künstlerisch tätig. Welchen Stellenwert die Selbstrepräsentation im World Wide Web einnimmt, bestimmt der Nutzer selbst. Inwieweit die Mitgliedschaft in einer Online-Community zur Identitätsarbeit wird, variiert dabei stark.
Vor allem beim Anlegen des Profils wird dem Nutzer eine Reflexionsleistung abverlangt. Später hängt das Ausmaß der Identitätsarbeit sehr vom individuellen Nutzungsverhalten ab. In der Regel steht dann die Kommunikation mit anderen Netzwerkern im Vordergrund.
Die eigene Identität kann bei der Profilgestaltung durchaus idealisiert werden. Diese Entgrenzung findet allerdings nur in kleinen Dimensionen statt. Die Möglichkeit, Teilaspekte seines Selbst hervorzuheben, gestaltet sich in der realen Welt ungleich schwieriger. Der starke Offline-Bezug sozialer Netzwerke im Internet führt jedoch eher zu dem Wunsch einer realistischen Selbstdarstellung.
Unserer Ansicht nach liegt der Antrieb, sich in einem sozialen Netzwerk zu registrieren, nicht in einem Bedürfnis nach Selbstreflexion. Vielmehr sind pragmatische Gründe für diese Entwicklung ausschlaggebend. Soziale Interaktion und Beziehungspflege sind schneller und kostengünstiger zu verwirklichen; permanente Weiterentwicklungen auf dem technischen Sektor fassen auch in unserem Privatleben Fuß. Bei allen Vorzügen, die wir durch soziale Netzwerke erfahren, bleiben aber auch gewisse Nachteile nicht aus. Der stetige Anspruch, mit der Zeit zu gehen, wird zur Sisyphusarbeit.
Am siebten Tag aktualisierte der Netzwerker das Profil, das er geschaffen hatte.
Und er sah, dass es nie ruhen würde.
- Für alle befreundeten Mitglieder sichtbare Bekanntmachungen
Literatur
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