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w.e.b.Square
Wissensmanagement und E-Learning unter Bildungsperspektive
Ausgabe 2010 04

Los! Zwitscher mir einen!


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Laptop an, Browser auf und rein in die gute Stube! Willkommen, setzen Sie sich. Gleich gibt es die neuesten Nachrichten, serviert in 140 Zeichen. Garniert mit ein wenig Hashtags, ein bisschen tinyurls, viel Non, kein Sens, ein wenig Exzellenz und Mut - et voilà: Bon Appetit!

Es ist Montag, Dienstag, jeder Tag. Wunschzeit: 7 A.M (Realzeit signifikant davon abweichend). Ich hüpfe aus dem Bett und bewege mich wie ferngesteuert, so wie bei guter Routine üblich, an meinen Laptop. Anschaltknopf drücken. Bis er hochgefahren ist mache ich mir einen Kaffee und reihe mich damit neben Millionen anderer Nutzer weltweit, die sich täglich, vor Frühstück und Dusche, gleichem Prozedere aussetzen. In die weite WWWwelt eintauchen: Mails checken, bei Facebook vorbeischauen, googlen, wikipedisieren: auf neues blaues Wörtchen klicken, auf neues blaues Wörtchen klicken, auf neues blaues ...und plötzlich: im Hyperspace verlaufen. Was können wir nicht alles auf diesem neuen Spielplatz lernen und machen!

Und schreiben erst. Das Internet - Tummelplatz für Experten aller Art und solchen, die das gerne wären. Selbstproklamierte Alleswisser, die zu jedem Buchstaben im Alphabet eine Meinung haben und denken, sie müssten diese mit der Welt teilen. Nahost-Konflikt, Integrationsprobleme, Ei-vor-Henne und Henne-vor-Ei: sie wissen über alles Bescheid Nur über eines vielleicht nicht, um es mit den Worten eines deutschen Komikers zu sagen: Man kann zu allem eine Meinung haben, man muss nicht. Diese Meinungsinflation nervt, das stimmt. Mindestens genauso schlimm sind aber alle Pseudo-Intellektuellen, die das Internet per se verdammen, es zu einem Ort der Kriminalität und Qualitätslosigkeit brandmarken wollen. So einfach ist das aber nicht. Auch das Internet folgt gewissen Prinzipien: Vielfalt ist das Stichwort. Es gibt hier, wie auch woanders auf der Welt, alle Facetten. Von Sinn. Unsinn. Qualität.

Ein Makrokosmos von Experten

Das Argument, das gedruckte Wort hätte mehr Wert als das virtuelle, zählt nicht viel. Nur weil man Dinge mit den Händen fassen kann, heißt das nicht, wir täten dies auch mit dem Geist. Von diesem Makrokosmos an Experten können wir doch eigentlich nur profitieren. Wir erhalten über Blogs von z. B. Journalisten, Wissenschaftlern, Juristen, Modefanatikern etc. wertvolle Einblicke in die reale Berufspraxis. In die Denkstrukturen derer, die unseren Interessen oder Berufswünschen näher sind. Es sind offene Fenster, aus denen wir blicken und die Sicht genießen sollten. Durch das Internet stehen nicht mehr wenige auf einer Empore, die Wissen und Wissenschaft für sich in Anspruch nehmen. Eine Entmystifizierung von Wissen, wenn wir dramatisch werden wollen. Ein Tor zu einer Welt, die wir - wenn denn richtig gehandhabt - zu unseren Vorteilen nutzen können. Und zur Kontrolle derer, die von eben jenen Emporen zu uns sprechen. Und natürlich sind es diese Leute, denen die neuesten Entwicklungen missfallen. Hitzige Debatten über Ausrutscher auf politischem Parkett, Veröffentlichungen von brisanten Informationen auf z. B. Wikileaks , Aufdecken von Manipulationsversuchen, wie kürzlich bei Bildern von BP oder politischen PR-Aktionen geschehen, Aufmerksam machen, Dinge benennen, Bewusstsein schaffen - all dies geschieht auf einer Vielzahl der weltweit derzeit 75 Millionen Blogs. Alle 200 Tage verdoppelt sich diese Blogosphäre (selbstredend, dass nicht alles davon lesenswert ist, aber es zwingt uns ja auch keiner www.duemmsterblogever.de in die Adressleiste zu tippen).

Eine moderne virtuelle Waffe

Vor allem aber: Dieses neue Instrument ermöglicht es auch denjenigen eine Stimme zu geben, die sonst nicht gerne gehört werden. In China, Burma, Iran - die meisten Blogs entstehen gerade da, wo sie am gefährlichsten sind. Menschen, die ihr Leben aufs Spiel setzen, um auf ihre Lebenssituation in Diktaturen aufmerksam zu machen! Die Möglichkeiten, die Blogs, Twitter und alle anderen Plattformen zur Verbreitung solcher Informationen bieten, sind eine moderne Waffe, weltöffentliche Meinung als Zahlungsmittel für ein bisschen weniger Ohnmachtsgefühle. Tweet. Retweed. Via XYZ. Und schon hat man eine sichere Formel für eine faszinierende Dynamik gefunden, welcher man passiv und/oder aktiv beiwohnen kann! Und auch als Freund des beruflichen (!) Journalismus sollte man nicht an der „neuen Gefahr" verzweifeln: Der Mainpost-Chefredakteur trifft es auf den Punkt: „Bürgerjournalisten?" fragte er auf einer Podiumsdiskussion stutzend. Es käme ja auch niemand auf die Idee, sich von einem „Bürgerchirurgen" operieren zu lassen oder mit einem „Bürgerpiloten" zu fliegen. In Internetsprache: chillax, dwbh1! Zwar stellt sich die Frage, warum umgekehrt derzeit jeder zweite Artikel von besagten „professionellen Journalisten" davon handeln muss, wie viele neue Gruppen sich in sozialen Netzwerken zu welchem Thema mit welchem Anstieg an Mitgliederzahlen binnen sounsovieler Tage formiert haben. Aber dann wiederum: Selbst das zeigt insgeheim, dass beide Seiten im Begriff sind sich zu arrangieren.

Kopfkino vs. Realität

Sicher, es ist auch eine Art von Flucht, wenn man mehr Zeit auf Facebook und vergleichbaren Social Networks verbringt, um ein Bild eines Lebens zu zeichnen, das außerhalb von Tastaturkombinationen vielleicht so nicht existiert. Aber auch da gilt: Nicht alles ist per se schlecht. Diese Networks dienen auch dazu, uns einander näher zu bringen. Sie vernetzen eine Welt, die schon längst keine geografischen Grenzen mehr kennt. Und nur weil man täglich einige Minuten findet, um zu posten und zu kommentieren, heißt das nicht, dass man nebenher keine Zeit mehr für das „eigentliche" Leben hat. Was auch immer das ist. Realität entsteht ohnehin im Kopf(kino). Und wenn die Vorführungen da drin für manche Menschen besser sind als die Welt da draußen, dann bleibt doch! Nehmt euch ein Gesichtsbuch und stöbert darin, aber vergesst nicht, es irgendwann wieder zuzuschlagen und es ins unendliche digitale Regal zurückzulegen. Geht raus! Geht spielen!

Sicherlich, es mag manchmal fragwürdig sein, mit wie wenig Vorsicht Menschen in Social Networks Privates von sich preisgeben. Wie gefährlich dieses „zu viel" an intimen Informationen, was im schlimmsten Fall zu einer Art Aushöhlung der Privatssphäre führt, werden kann, wird den meisten erst dann klar, wenn es zu spät ist. Vieles davon möchte man nicht wissen. „Ich habe Hunger", „Ich bin müde",„Gute Nacht" - gehört dazu. Vieles sollte man über andere nicht wissen. Und wenig wissen wir darüber, wohin dieses „mental stripping" einmal führen wird - schon jetzt arbeiten Forscher daran, ein Verfallsdatum für Daten einzuführen, um dem Nutzer mehr Kontrolle über seine Daten zu geben. Das verdeutlicht das Bewusstsein einer „Gefahr", auch wenn wir ihr Ausmaß noch nicht einordnen können. Der derzeitige Google-Chef geht sogar so weit, und ist überzeugt, dass man in Zukunft das Recht haben werde, seinen Namen zu ändern, um sich vor „virtuellen Jugendsünden" zu schützen. Letztendlich kann man es aber nicht erwarten, dass diese Plattformen uns den Umgang mit eigenen Daten und Leben beibringen. So wenig wie uns Papier den richtigen Umgang mit Sprache und Grammatik beibringen kann.

Sprachliebhaber und ihre Sorgen

Apropos Sprache: Sätze und Aussagen in ein 140-Zeichen-Korsett gequetscht, Kleinschreibung, Akronyme! Welch Graus für Sprachliebhaber! Ein guter Freund, nennen wir ihn Felix, verzweifelt gerne an diesen (ungeschriebenen Netz-)Regeln. Auch nach hundertmaliger Aufforderung, dies zu lassen, verbessert er sogar beim Skypen Tippfehler und Groß- und Kleinschreibungsdreher und zieht Konversationen damit unnötig in die Länge (und Gesprächsteilnehmer in den Wahnsinn). LASS DAS! Ich verstehe was du sagst! Und ja! Ich bin der deutschen Sprache mächtig und weiß, wie man diese Dinge „eigentlich" schreibt. Mich musst du nicht vor dem Grammatik- und Rechtschreibmonster bewahren, das du glaubst durch diese Fehler wütend zu machen! Und selbst, wenn es, das Duden-Monster, wütend sein sollte: was soll's? Sprache ist die Haut der Geschichte: an ihr können wir Windungen, alle Irrungen und Wirrungen vergangener Jahrhunderte erkennen. Wieso sollte unser Sprachschatz nicht auch von der jetzigen Generation 2.0 Kratzer und Narben mit sich tragen? Manches bleibt, manches schwindet, vieles wird irgendwann eine schöne Netz-Anekdote als Erklärungshintergrund haben. Tacheles, Bikini, Fisimatente: Neuschöpfungen und „sprachliche Migranten" bereichern die Sprache! Felix lässt das alles ziemlich unbeeindruckt. Sein neues Hobby: deutsche Wikipedia-Einträge nach falschen, amerikanischen Anführungszeichen und Rechtschreibfehlern durchsuchen und korrigieren. Aha. „Ja, deswegen kann ich Blogs irgendwie auch nicht lesen. So viele Fehler. Widerlich. Mal abgesehen davon - wie sagte mal einer: Blogs, Twitter, der ganze Müll, das sind die 'Klowände des Internet'". Aha. Und wie schrieb mal einer auf so einer Wand: (Auch) Klowände reinigen, ist wie Bücher verbrennen!


  1. Chillax von „to chill" und „to relax", dwbh = don't worry, be happy

Shabani, K. (2010). Los! Zwitscher mir einen!. w.e.b.Square, 4/2010. URL: http://websquare.imb-uni-augsburg.de/2010-04/8.

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