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Wissensmanagement und E-Learning unter Bildungsperspektive
Ausgabe 2011 04

Warum die Idee vernetzten Kollaborierens eine Erfindung der Buchkultur ist


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„Web 2.0", „Lernen 2.0", „Library 2.0", „Bildungsforschung 2.0" - Ein Blick auf die gegenwärtige erziehungs- und bibliothekswissenschaftliche Fachdiskussion zeigt, dass ein fundamentaler Wandel der Gesellschaft, ihrer Institutionen und Funktionssysteme vermutet wird, der so umfassend ist, dass man ihn durch eine neue Versionsnummer von bisherigen Wandlungs- und Entwicklungsprozessen abgrenzen muss. Hinter der Übernahme des Prinzips der Versionsnummer, welches ursprünglich aus der Softwareentwicklung stammt, steht der Gedanke, neue Technologien würden den zu beschreibenden Wandel mitkonstituieren oder gar auslösen. Dass in der 2.0-Rhetorik die Hauptversionsnummer geändert und nicht nur eine Stelle hinter dem Komma erhöht wird, deutet auf einen vermuteten qualitativen Sprung hin, einen „Major Release" mit signifikanten Änderungen, der auf Kosten der Kompatibilität zu früheren Versionen gehen könnte. Neue Technologie und die daraus resultierenden Möglichkeiten, diese für die Organisation und Vermittlung von Wissen zu nutzen, scheinen vollkommen neu und noch nie dagewesen zu sein:

• Der Anthropologe Michael Wesch beendet sein Video „The Machine is Us/ing Us" (Wesch, 2007) mit der Aufforderung grundlegende Koordinaten der Weltaufordnung zu überdenken.
• Der Instruktionsdesigner Curtis J. Bonk (Bonk, 2009) beschreibt aktuelle Webtechnologien als „opener" für eine neue Lernkultur, in der jeder alles, von jedem, zu jeder Zeit lernen könne.
• David Wiley (Wiley, 2009)stellt in einem Vortrag über Open Education Lernen damals und heute (then vs. now) gegenüber und begründet dieses mit den Möglichkeiten des Internets, welches als universelle, 24 Stunden geöffnete Bibliothek fungiere.

Dies sind nur wenige Beispiele. Den meisten Positionen ist gemeinsam, dass Kollaboration und Sharing als zentrale und vor allem neue Elemente einer lernenden Netzkultur gesehen werden1.
Wir werden in diesem Beitrag, die These vertreten, dass das „Neue" der webbasierten Lernkultur im Wesentlichen auf den Prinzipien des Mundaneums beruht, welches von dem Bibliothekar Paul Otlet schon 1934 beschrieben wurde. Der Text beginnt mit einer Rekonstruktion der Ideen Paul Otlets. Daran anschließend werden wir die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zum heutigen Web 2.0 herausarbeiten. Den Abschluss des Beitrages bilden resümierende Gedanken zur aktuellen E-Learning-Diskussion.

1. Paul Otlet und das Mundaneum

1.1 Paul Otlet und sein Begriff der Dokumentation

Paul Otlet (23.8.1868 -10.12.1944) gilt, insbesondere wegen der von ihm und Henry LaFontaine erarbeiteten universellen Dezimalklassifikation und verschiedensten Aktivitäten bei der Gründung historisch relevanter Institutionen als einer der Mitbegründer der Dokumentations- und Bibliothekswissenschaft. Sein Wirken lässt sich dabei nicht auf einige zentrale Schriften reduzieren, sondern liegt in einer Reihe von Aufsätzen vor, die in französischer Sprache verfasst wurden und daher lange Zeit im englischsprachigen internationalen Diskurs wenig Aufmerksamkeit fanden. Erst im Jahr 1990 wurden sie von Warden Boyd Rayward ins Englische übersetzt (Rayward, 1990) und somit einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Sofern im englischsprachigen Raum auf Otlet verwiesen wird, gelten zumeist die von Rayward übersetzten Aufsätze als Referenz. Das Spektrum, welches Otlet mit seinen Überlegungen abdeckt, umfasst die Organisation und Aufbereitung von Wissen in verschiedenster Gestalt. Die Aufsätze thematisierten die Aufgabe und Methodik der Dokumentationswissenschaft im Allgemeinen (Otlet, 1892/1990), die institutionellen Rahmenbedingungen (Otlet, 1907/1990), Ordnungssysteme und die Konsequenzen technologischer Innovationen für die dokumentarische Arbeit (Otlet, 1906/1990). In der gegenwärtigen Otlet-Rezeption finden die eben genannten Aufsätze, die exemplarisch für die Vielfalt des Schaffens Otlets stehen, jedoch kaum Beachtung. Vielmehr wird der Mythos eines zentralen Werkes konstruiert und die umfangreichste Monographie Otlets - „Traité de documentation"2 (Otlet, 1934)- als zentrale Schrift ausgegeben. Die Reduktion des Wirkens Otlets auf dieses eine Werk ist insofern problematisch, als dass es überwiegend nicht realisierte Überlegungen enthält, welche die multimediale Organisation von Wissen mittels technologischer Innovation betreffen. Mit den in Traité de documentation vorgestellten Ideen erarbeitete Otlet eine Konzeption, die verschiedene Aspekte des Word-Wide-Webs, insbesondere den des Hypertexts, vorwegnahm. Frank Hartmann (Hartmann, 2006) geht soweit, Otlet die Planung einer „Weltenzyklopädie als multimediale Datenbank" zu attestieren, für die er „die Technik der systematischen Dokumentation" als Grundlage erfand. Dem Dokumentationsbegriff Otlets liegt dabei ein positivistischer Wissensbegriff3 zugrunde, der sich auch in seiner Terminologie wiederfindet. So geht Otlet davon aus, dass es letztlich nur vier Arten von Quellen gebe: Fakten („facts"), Interpretationen von Fakten („interpretations of facts"), Statistiken („statistics") und Quellen („sources") (vgl. Otlet, 1990, S. 16) und diese nur aus dem Material heraus extrahiert werden müssten:

„The documentary method consists in having recourse to documents in order to extract facts and information for the acquisition of knowledge, for study or for scientific research" (Otlet, 1990, S. 105).

Diese Aufgabe möchte Otlet durch eine Methode erreichen, die er als monographic principle bezeichnet. Hierbei soll ein Text auf seine relevanten Informationsbestandteile heruntergebrochen werden. Anschließend sollen diese destillierten Informationen abgespeichert werden (vgl. Sonvilla-Weiss, 2009, S. 19). Dieser Form der Datenauswertung liegt die positivistische Annahme zu Grunde, dass die Präsentation der Information unwichtig sei:

„The external make-up of a book, its format and the personality of its author are unimportant provided that its substance, its sources of information and its conclusions are preserved and can be made an integral part of the organisation of knowledge, an impersonal work created by the efforts of all" (Otlet, 1990, S. 17).4

Da für Otlet die Frage von Wahrheit keine individuelle Konstruktion des Subjekts ist, sondern Wissen sich durch den Einsatz der wissenschaftlichen Methode legitimiert, ist die Frage nach den Metainformationen des Wissens (Autor, Einband des Buches, Verlag) irrelevant. Wichtig ist nur, die „Fakten" vom Ballast zu befreien und separat abzulegen:

„The ideal, from this point of view, would be to strip each article or each chapter in a book of whatever is a matter of fine language or repetition or padding and to collect separately on cards whatever is new and adds to knowledge" (Otlet, 1990, S. 17).

Um das so gewonnene Wissen zu klassifizieren, erweiterte Otlet zusammen mit Henry LaFontaine die von Melvil Dewey eingeführte Dewey-Dezimal-Klassifikation zur Universellen Dezimal Klassifikation (UDK, engl. UDC). Die Unterschiede zwischen beiden Klassifikationen erscheinen für den externen Betrachter marginal (zu den verschiedenen Klassifikationssystemen vgl. Umlauf, 2006) - Wichtig ist jedoch ein kleines Detail: Die UDK umfasste nicht nur ein Ordnungsschema für Dokumente, sondern auch Operatoren mit denen diese logisch miteinander verknüpft werden konnten, sodass die UDK als Vorreiter moderner Datenbankstrukturen gesehen werden kann und - wie Rayward anmerkt - auch eine Idee der Verlinkung enthält:

„[The] use of the UDC provided implicit, recognizable links between the files. A number assigned to an entry in one file automatically linked that entry to an entry bearing the same ore related number in another file" (Rayward, 1994, S. 239).

1.2 Palais Mondial und Mundaneum

Seine Ideen zur Methode der Dokumentation setzt Paul Otlet in den folgenden Jahren im sogenannten Palais Mondial um, einer riesigen Bibliothek mit angeschlossenem Museum, in dem die Wissensbestände nach dem Monographic Principle in der UDK klassifziert werden. Otlet wird von der belgischen Regierung unterstützt, die nicht nur die entsprechenden Räumlichkeiten im Genfer Palais du Cinquantenaire zur Verfügung stellt, sondern auch die Finanzierung des Wissenspeichers sichert (vgl. Wright, 2003). Als 1924 der Völkerbund Genf anstatt Brüssel zum Sitz des Hauptquartiers ernennt, sinkt das Interesse der belgischen Regierung an dem vor allem auf internationale Präsenz ausgerichteten Projekt. Die Existenzberechtigung des Palais Mondial, die von der Idee, Brüssel als einen Nabel der Welt zu etablieren, profitierte, steht immer mehr in Frage. In den folgenden Jahren wird das Projekt immer weiter verschlankt und muss in kleinere Gebäude umziehen, bis Otlet sich 1934 gezwungen sieht, es wegen mangelnder Unterstützung einzustellen. Wenige Jahre später fallen die Nationalsozialisten in Belgien ein und errichten im Gebäude des Mundaneums ein „Museum für nicht entartete Kunst" - ein Großteil der Datenbestände wird dabei zerstört (vgl. Wright, 2007, S. 189). Die Größe des Datenbestandes ist für einen rein analogen Speicher jedoch erstaunlich: Als das Palais Mondial im Jahr 1934 geschlossen wird, umfasst seine Datenbank 15.646.346 Karteikarten (Rayward, 1994, S. 238). Eine Karteikarte umfasst dabei einen aus Büchern extrahierten „Fakt" und nicht eine einzelne Publikation.
Es scheint ein Paradoxon der Geschichte zu sein, dass Paul Otlet im Jahr 1934, als der Palais Mondial geschlossen wurde, diesen zum Mundaneum in seinem Werk Traité de documentation weiterdachte. Seine Vision der Wissensorganisation formulierte Otlet schon 1924:

"a great colony, a universitas, with its many institutes swarming around the central structure. And yet later one may entertain the vision of a 'city' where each nation will be represented by its pavillion each great special organisation of world life, by its building" (Otlet 1924, 42 zit. nach Rayward, 1977, S. 282).

Darüber hinaus erkannte er auch die Missstände der damaligen Wissensorganisation, welche vor allem auch durch nationalistische Tendenzen einer Fragmentierung unterworfen war. Er sah in der Dokumentation ein Mittel, das Konflikte überwinden sollte:

„As the world goes now, on the lines of hyperseparatism, there will soon be only documentation to establish regular and benevolent contact between man." (Otlet n.n., 387 zit. nach Rayward, 1977, S. 354).

Daher beschreibt Otlet in Traité de documetation, wie seine Vision umgesetzt werden kann. Die Grundannahme ist hierbei, dass ein medienübergreifendes Netz des Informationsaustauschs geschaffen werden soll. Hierzu sollen die Nutzer der Medien mit einbezogen werden und partizipieren, indem sie Informationen aus den Medien extrahieren und mit Kommentaren versehen. Der Austausch sollte hierbei per Radio, Fernsehen, Kino, Mikrofilm, Schallplatte oder Röntgenstrahlung erfolgen und schließlich zentral gesammelt und wissenschaftlich ausgewertet bzw. kategorisiert werden:

„In these major works, the Traité and Monde, the fruits of a lifetime's labour, there is implicit a belief that the method of analysis and the presentation of material which they exhibit are scientific, that «social facts» can be isolated, set down and related, thereby providing a basis for the derivation of a rational, necessary plan of world organisation and action which would advance the general welfare of Humanity" (Rayward, 1977, S. 354).

Hier wird noch einmal deutlich, dass Otlet von absoluten Wahrheiten und Informationen ausging, welche durch eine entsprechende Ordnung abgebildet werden können. Die Annotationen der Nutzer sollten daher helfen, Informationen einzuordnen, jedoch waren „social facts" auf Grund absoluter Wahrheiten auch immer herausfilterbar. Am Ende sollte aus den durch Hyperlinks verknüpften Informationen ein „universelles Buch" entstehen, welches auch Bild-, Video- und Tondokumente enthalten sollte (vgl. Rayward, 1994, S. 247)5. Diese Idee eines multimedialen Hypertexts ist auf der Ebene der Informations- und Wissensaufbereitung wohl der herausragendste Gedanke Otlets. Trotz seiner positivistischen Grundannahmen, die im Zeitalter postmodernen Wissens kaum noch haltbar sind, scheinen seine Ideen insbesondere im als „neu" beschworenen Web 2.0 eine hohe Aktualität zu besitzen.

2. Moderne Mundaneen

2.1 Das Semantic Web

Für die Folgen des Fortschritts der Informations- und Kommunikationstechnologien und deren Auswirkungen auf die Anforderungen die dem Einzelnen bei der Bewältigung seines Alltags gestellt werden, ist der Begriff der Wissensgesellschaft bezeichnend. Otlets Vision eines Wissensnetzes wurde durch das World Wide Web Wirklichkeit. Jedoch ist die Annahme, dass es eine absolute Wahrheit gibt, einem Konzept der Flexibilität und Reversibilität von Wissen gewichen, was gleichsam eine Notwendigkeit der Moderne ist (vgl. Giddens, 1996, S. 55f).Die bisher verfolgte Lesart der Gedanken Otlets ließe sich wohl am besten mit dem frühen, statisch konzipierten WWW vergleichen. Inhalte können hier nur von Wenigen bearbeitet werden, die Mehrheit kann kaum partizipieren. Alex Wright jedoch liest Otlet auf einer Ebene, die wir als struktural6 gedacht bezeichnen wollen. Er sieht in der Möglichkeit des Kommentierens einen potenziellen sozialen Raum, der sich in der UDK widerspiegelt:

„The UDC's capacity for mapping relationships between ideas - for constructing the ‘social space' of a document - provides a dimension of use not supported in other purely topical classification schemes" (Wright, 2003).

Diese Gewichtung der sozialen Aspekte macht Wright noch deutlicher, indem er aufzeigt, dass Otlet schon früh die Probleme des heutigen World Wide Webs bedacht hat. Mit dem Palais Mondial hatte Otlet eine Lösung gefunden, um einzelne, in sich geschlossene Beiträge der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dies vergleicht Wright mit der Suchmaschine Google, welche Ähnliches leiste (z.B. bei statischen Webseiten oder bei PDFs auf Servern). Doch in Bezug auf den „social space of a document", wie es im Mundaneum angelegt ist, weist er auf die Relevanz des Sozialen bzw. der Relationen zwischen einzelnen Dokumenten hin, die im derzeitigen WWW durch einseitige Hyperlinkstrukturen determiniert sind. Letztlich kann diese Netzstruktur keine Ontologien abbilden, was bei Wrights Lesart des Mundaneums mit angelegt ist. Daher sieht er die Umsetzung des Mundaneums auch nicht im Web 2.0, sondern im Semantic Web7:

„Would Otlet's Web have turned out any differently? We may yet find out. With the advent of the Semantic Web and related technologies like RDF/RSS, FOAF, and ontologies, we are moving towards an environment where social context is becoming just as important as topical content. Otlet's vision holds out a tantalizing possibility: marrying the determinism of facets with the relativism of social networks" (Wright, 2003).

Anhand dieser Argumentation streicht Wright die Ähnlichkeiten zum Semantic Web heraus, in welchem einzelne Objekte relational untereinander verknüpft sind. Daher würde es keine absoluten Wahrheiten, sondern nur noch relationale Wahrheiten geben8. Auch wenn diese Lesart sicherlich nicht mit Otlets positivistischen Verständnis von Wahrheiten bzw. Fakten einhergeht, so zeigt Wright, dass die Struktur des Mundaneums durchaus das Potenzial hat, relational ontologisch Wissen zu ordnen. Dies wäre ganz im Sinne Giddens‘, der ein flexibles, reversibles Wissen in Bezug auf die reflexive Moderne als notwendig erachtet (vgl. Giddens, 1996, S. 55f).

2.2 Virtuelle Lernumgebungen

Doch nicht nur das Semantic Web erscheint aus dieser Perspektive als Verwirklichung einer Vision Otlets - auch aktuelle Lehr-Lern-Umgebungen und die ihnen zugrundeliegenden Begründungsstrukturen weisen erstaunliche Parallelen zu dem in „Traité de documetation" formulierten Gedankengängen auf - wie wir am Duisburger Online-Campus illustrieren wollen. Dabei beziehen wir uns auf einen Vortrag von Michael Kerres im Rahmen des Open Course 2011(Kerres, 2011). Kerres beginnt seinen Vortrag damit, die aktuell vorherrschenden Learning-Management-Systeme (LMS) vorzustellen und skizziert das Problem, dass die Lernumgebungen zwar über das Netz funktionieren, aber nicht mit anderen Webapplikationen vernetzt sind. Somit stellen sie als Walled Gardens eigene Inseln im Meer der Links dar. Wissen - z.B. ein im LMS eingestellter Text - bleibt dort nur angemeldeten Lerngruppen zugänglich und so vom übrigen Web separiert. Jede Uni nutzt ihr eigenes LMS und neben den öfters genutzten wie BSCW9, Moodle10, StudIP11 und Ilias12 gibt es noch eine Vielzahl an Insellösungen - an manchen Universitäten variieren die Lernumgebungen gar von Institut zu Institut, im Extremfall von Dozent zu Dozent. Die von Kerres gestellte und von uns hier weiter illustrierte Diagnose erinnert in ihrem Wesen an den von Otlet angesprochenen Hyperseperatism.
Der Online-Campus tritt zwar nicht mit dem Anspruch an, die Problematik der Fragmentierung des Wissens zu lösen. Der Anspruch ist es - bildlich gesprochen - die Mauern des Walled Gardens LMS einzureißen und Verbindungen zum übrigen Web - beispielsweise zu Twitter, Diigo oder Digg - zu knüpfen.

Die Funktionsweise dieser neuen Plattform beschreiben Hölterhof und Kerres folgendermaßen:

„Alle Lernaktivitäten auf OCNG werden in sozialen Gruppen organisiert. Mitglieder können selbstständig Gruppen gründen, diese thematisch beschreiben und Inhalte in Gruppen bearbeiten und austauschen. Die Prozedur zum Beitreten neuer Mitglieder zu diesen Gruppen kann beim Erstellen der Gruppe ausgewählt werden. Entsprechend können Gruppen geschlossen werden, d.h. keine neuen Mitglieder werden aufgenommen. Gruppen können ebenso moderierte Beitrittsprozeduren besitzen, wobei der Beitritt eines neuen Mitglieds von einem bestehenden Gruppenmitglied bestätigt werden muss. Für alle Gruppen gilt, dass nur Mitglieder Zugriff auf Inhalte der Gruppe haben (und nicht z.B. alle „Teacher") und dass solche Gruppen ohne weitere Einschränkungen von allen Mitgliedern im System gegründet werden können. Alle Mitglieder können Inhalte in die Gruppe einstellen. Solche Inhalte können zunächst alle Arten von Postings sein, aber auch Artefakte für kooperatives Arbeiten. Entsprechend stehen etwa Wiki-Seiten, Etherpads oder virtuelle Besprechungsräume für Audio- und Videokonferenzen zur Verfügung, die asynchrones und synchrones Arbeiten ermöglichen" (Hölterhof & Kerres, i.E., S. 11).

Somit lassen sich zwei zentrale Charakteristika der Idee Online-Campus beschreiben. Das erste Charakteristikum ist die spezifische Gruppenorganisation, die en Detail in dem Beitrag von Kerres und Hölterhof sowie in einem Open-Course Vortrag beschrieben wird. Das zweite Charakteristikum scheint so selbstverständlich, dass nur eine kurze Erwähnung nötig ist: In den Gruppen können Artefakte (Links, Videos, etc) eingestellt und kommentiert werden. Heutzutage, da Wikis und soziale Netzwerke eine weite Verbreitung finden, ist diese Form des kooperativen Umgangs mit Wissen quasi selbstverständlich. Für Paul Otlet war sie es auch. Das kooperative Kommentieren medialer Artefakte ist die Verwirklichung des Social Space inklusive der Kernideen der Kommentierung und Verlinkung, und auch wenn kein „Universal Book" dabei entsteht, so doch ein ähnliches Konstrukt, dem lediglich der, ohnehin veraltete, positivistische Anspruch auf Universalität fehlt.
Verwirklicht das „Neue" des Internets also nur die Ideen des Buchmenschen Otlets? Die Antwort muss „Jein" lauten. Es ist die Verwirklichung der Ideen, aber nicht, weil es sensationell neu ist, sondern weil es eine Idee des Buchdrucks weiterentwickelt. Die Grundlage des Universial Book ist die Referenzierbarkeit von Fakten - oder vielleicht etwas neutraler: Information. Diese ist im Internet durch die Hypertextstruktur, also durch Links, gegeben. Die Idee dafür stammt jedoch, wie Thorsten Lorenz und Cornelia Glaser aufzeigen, aus der Buchdruckzeit: mit dem Übergang des Lesens einer Schriftrolle zum Gutenbergschen Buchdruck werden die Seitenzahlen zur Grundlage einer eindeutigen standardisierten Quellenreferenz. Im Buchdruck „erhalten die Texte eine besondere Eigenständigkeit, die den Weg zur Schriftmoderne bahnt. Durch Überschriften, Fußnoten, Register, kurz gesagt: Adressierungen entsteht ein logisch eigenständiger, biblionomer Text, der gleichsam vom physischen Objekt gelöst wird und über der Seite ‚schwebt‘" (Lorenz & Glaser, 2009, S. 55). Dieser biblionomische Text wird durch eine standardisierte Typografie adressierbar:

„Die Normierung und die so erzeugte Einheitlichkeit einer Druckseite für jedes Exemplar erlaubte erstmals durchgängige Paginierungen und Adressierbarkeiten von Informationen [...]. Die Verwaltung von Titeln, die Benutzerfreundlichkeit von Seitenzahlen und die dadurch forcierte gegenseitige Zitierbarkeit steigerte die Anschlussfähigkeit der Autorinnen und Autoren untereinander. Lesetechnik wurde jetzt also eine Kommunikationstechnik" (Lorenz & Glaser, 2009, S. 56).

Die Adressierbarkeit von Informationen ist die Grundlage für die folgenden Entwicklungen. Alle Konzepte von Linked Open Data setzen auf einem URI-basierten System und somit auf der Ermittlung eines eindeutigen Standortes von Informationen auf - auch wenn der Standort längst ein digitaler ist. Diese Adressierbarkeit eines Datums, einer Information ist unseres Erachtens auch die Basis der modernen Lernumgebungen. Lesen wird zu einer Kommunikationstechnik, mit der viele Kursteilnehmer ein vernetztes universelles Buch schreiben.

3. Fazit

Die neue Lernkultur, welche die "Schule am Ende der Buchkultur" (Böhme, 2006) also so vehement herausfordert, ist unserer Position folgend also ein Kind der vom Buchdruck geprägten Grafossphäre13 - freilich mit einem großen Emanzipationsbestreben gegenüber seinem Elter, der hier im Sinne Torsten Meyers als „Medium im Singular" gedacht werden kann. Darf man deshalb die aktuellen Bemühungen der Mediendidaktiker mit einem Kopfschütteln als „alt" und „erledigt" deklassieren? Ist das alles nur alter Wein in neuen Schläuchen? Soweit würden wir unsere Lesart nicht treiben. Die Funktionalität und die Diskussion um diese sind um einiges differenzierter als Paul Otlet es seinerzeit formulieren konnte. Ein Plädoyer für Bescheidenheit würden wir dennoch gerne ans Ende dieses Beitrages stellen: Man sollte bei aller Begeisterung für den Leitmedienwechsel, das neue Web, neue Formen des Lernens und andere Schlagworte nicht den Blick dafür verlieren, dass Web 2.0 auch Buchkultur 3.0 ist.


1 vgl. dazu auch das sog. White Paper, in dem Henry Jenkins et. al. „new media literacies" definieren - Jenkins et. al., 2006
2 Übersetzt bedeutet der Titel "Abhandlung über die Dokumentation", heutzutage würde man ihn wahrscheinlich als „Eine Einführung" betiteln.
3 W. Boyd Rayward umschreibt den impliziten Positivismus Otlets folgnermaßen: „Otlet's concern was for the objective knowledge that was both contained in and hidden by documents. His view of knowledge was authoritarian, reductionist, positivist, simplistic-and optimistic! Documents are repetitious, confusingly expressed and filled with error as well as with what is factually true and, therefore, of use. But he betrays no doubt that what is factually true and likely to be useful can easily be identified. It is merely a question of institutionalizing certain processes for analyzing and organizing the content of documents" (Rayward, 1994, S. 24).
4 Auch in diesem Zitat zeigt sich die positivistische Einstellung Otlets. Die dokumentarische Arbeit soll eine unpersönliche sein, die zum Wohl der Gesellschaft beiträgt. Mit diesem Anspruch trägt sie den Gedanken Comtes in sich, welcher meinte, durch die Vereinheitlichung von Wissenschaft und Bildung eine organische Entwicklung der Gesellschaft einzuleiten, die im positivistischen Stadium ende, in welchem eine Harmonie zwischen Wissenschaft, Menschenverstand und Technik herrsche (vgl. Mader, 2005, S. 404-409).
5 Eine ähnliche Konzeption legt auch Vannevar Bush (Bush 1945) mit seinem „Memex" vor, wobei er die Nutzung eines multimedialen Schreibtisches eher als Erleichterung der Wissensorganisation des Einzelnen betrachtet und nicht die Vermehrung des Weltwissens im Auge hat. Im Gegensatz zu Otlet konzipiert er also kein „universal book", sondern ein „personal book".
6 Wir beziehen uns in der Begrifflichkeit auf das Konzept der Strukturalen Medienbildung (Jörissen & Marotzki, 2009), welches davon ausgeht, dass Medien nicht nur als Gegenstand von Lernprozessen für die Pädagogik Relevanz besitzen, sondern darüber hinaus durch ihrer Strukturen einen Rahmen für individuelle Lern- und Bildungsprozesse im Sinne der Strukturalen Bildungstheorie (Marotzki, 1990) aufspannen.
7 Das Semantic Web wird als Nachfolger des Web 2.0 angesehen. Von Seiten der W3C sind bereits Spezifikationen zur technischen Umsetzung veröffentlicht. Zusätzlich existieren auch grundlegende Konzepte. So werden einzelne Informationen in Ontologien organisiert, was mehrere Vorteile bzw. Konsequenzen hat. So werden z.B. unvollständige Informationen toleriert, da Dokumente nicht mehr einfach, sondern relational verlinkt sind. Zudem braucht es auch keine absoluten Wahrheiten und Fakten mehr zu geben. Diese ergeben sich aus der Kombination mehrerer Kontexte. Prinzipiell liegt die Stärke des Semantic Web in seinem evolutionär ontologischen Grundprinzip (vgl. Koivunen und Miller, 2001).
8 Eine (unfreiwillig) kulturpessimistische Lesart dieser Entwicklung wurde jüngst von Frank Schirrmacher publiziert, welcher der Blogosphere eine „talmudische Kommunikationskultur" unterstellt, die letztendlich jedwede Idee von Fakten auflöse (Schirrmacher, 2011).
9 http://public.bscw.de/
10 http://moodle.org/
11 http://www.studip.de/
12 http://www.ilias.de/docu/
13 Der Begriff der Grafossphäre entstammt der Mediologie Regis Debrays. Der Grundgedanke der Mediologie besteht darin, dass „bescheidene technische Modifikationen [und somit auch die Entwicklung neuer Medien - CK/WR] zu mehr oder weniger auf- und abwertenden -ismen werden" und somit ein „technisch-soziales Übertragungs- und Beförderungsmilieu mit einer eigenen Raum-Zeit" (Debray, 2003, S. 44) konstituieren, welches als Mediensphäre bezeichnet wird. Eine solche Mediensphäre definiert „eine bestimmte Art regulierender Überzeugungen [...], eine besondere Zeitlichkeit (oder eine typische Beziehung zur astronomischen Zeit) und eine bestimmte Art, wie Gemeinschaften eine Einheit, einen Körper bilden (mehr als nur einen Rahmen für ihren territorialen Zusammenschluss). Ihre Vereinigung charakterisiert die kollektive Persönlichkeit oder Stileinheit einer Epoche - oder das, was ihren Instrumenten, Formen und Ideen gemeinsam ist" (Debray 2003, S. 57). Der Buchdruck wird von Debray als die die Grafossphäre begründende Entwicklung angesehen. Mit der Einführung des Fernsehers beginnt die sog. Videosphäre, die evtl. durch eine Hypersphäre abgelöst werden könnten.


Literatur
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Könitz, C. & Ruge, W. (2011). Warum die Idee vernetzten Kollaborierens eine Erfindung der Buchkultur ist. w.e.b.Square, 04/2011. URL: http://websquare.imb-uni-augsburg.de/2011-04/3.

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