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Wissensmanagement und E-Learning unter Bildungsperspektive
Ausgabe 2010 04

Communities vs. Unternehmen

Wenn sich die Netzgemeinde gegen einen richtet


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Digitale soziale Netze und Virtuelle Communities werden durch ihre Beliebtheit und Frequentiertheit von Unternehmen gerne als kostengünstiger und einfach zu handhabender Kommunikationskanal gesehen. Die Vorteile möchten allen nutzen, aber nur wenige befassen sich mit Negativszenarios. Was passiert, wenn ein Unternehmen plötzlich am virtuellen Pranger steht? Der Artikel befasst sich mit dieser Frage und zeigt auf, welche Fehler Unternehmen gemacht haben und wie diese vermieden werden können.

1. Networks und Communities im digitalen Alltag

Abends zu Hause. Noch schnell bei Facebook einloggen. Daniel hat ein neues Gebäude in Farmville, Sebastian findet Starbucks gut und Michaela nimmt an einer Veranstaltung teil. Dann noch kurz die Nachricht von Sabine beantworten und wieder ausloggen. Vielen wird dieses Szenario so oder so ähnlich bekannt vorkommen.

Social Communities sind nach wie vor auf dem aufsteigenden Ast. Immer mehr Personen verbringen Zeit auf Facebook, studiVZ, Twitter und Co. Schon 56% der 20-29jährigen und sogar 78% der 14-19jährigen deutschen Onliner nutzen Social Network Dienste (Eimeren & Frees, 2009, S. 334). Die Verweildauer von Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Networks und Communities ist mittlerweile auf mehrere Stunden täglich gestiegen, wobei die Potenziale, die die Seiten bieten, selten voll ausgeschöpft werden (Schmidt, Paus-Hanebrink, Hanebrink & Lampert, 2009, S. 6 ff.). Die meisten „Social-Networker" wollen mit Freunden chatten, den Kontakt zu ihren Freunden aufrecht erhalten, sich die Zeit vertreiben oder auch sich selbst inszenieren und präsentieren. Dabei muss man beachten, dass viele Internetnutzer nur in Social Networks angemeldet sind, da sie den Kontakt zu ihrer Peer-Group nicht verlieren wollen und um dabei zu sein, bei dem was alle machen (Schlechtriem et al., 2009, S. 19f.; Schmidt et al., 2009, S. 9).

Die zunehmende Bedeutung digitaler sozialer Netze[1] verändert viele Gewohnheiten im Alltag der Nutzer, wie beispielsweise die Kommunikation oder das Einkaufen. Nachrichten werden über die Messaging Systeme der Networks versendet und bevor man etwas einkauft informiert man sich erstmals in einem Forum. Um dem geänderten Verhalten der Nutzer gerecht zu werden, ändern auch Unternehmen ihre Kommunikationsstrategien, denn wo die Kunden sind, wollen auch die Unternehmen präsent sein. So haben mittlerweile 81% der größten US-amerikanischen werbetreibenden Unternehmen Facebook in ihre Strategien integriert (Kirchhofer, 2009, S. 13). Daneben werden auch vermehrt iPhone-Applikationen oder Twitteraccounts in die Unternehmenskommunikation eingebunden.  

2. Social Networks und Unternehmen

Welchen Stellenwert Communities[2] mittlerweile im Alltag von Jugendlichen wie Erwachsenen einnehmen, wurde im ersten Abschnitt dargelegt. Wenn man zusätzlich berücksichtigt, dass alleine Facebook in Deutschland nahezu 10 Millionen Mitglieder (Roth & Wiese, 2010, S. 3) hat, dann verwundert es nicht, dass sich auch Unternehmen in Social Communities präsentieren wollen. Es scheint, als könne man sich auf einfachem Wege, mit relativ geringem personellem, technischem und zeitlichem Aufwand riesige Märkte erschließen und viele (potenzielle) Kunden auf einmal erreichen. Die Kaffeekette Starbucks brachte es im August 2010 auf über 11,5 Millionen Fans[3] oder der Getränkehersteller Coca Cola[4] auf über 9 Millionen Fans bei Facebook. Diese Entwicklungen bleibt nicht ohne Folgen, wie Joachimsthaler et al. (2010) herausstellen. „The rise of the social of media, technologies and networks not only changed our lives, it irrevocably changes how brands are built" (S.2 f.).

Für Marketing-, Vertrieb-, Personal- oder auch PR-Mitarbeiter ist die Präsenz in Social Networks auf den ersten Blick ein Traum. Die Nutzer verbinden sich mit Produkten oder Marken, werden Fans, zeigen ihr Interesse ihren Freunden, lesen PR Meldungen, schauen Werbeclips, machen Verbesserungsvorschläge, bringen Ideen ein, beteiligen sich an neuen Produkten sowie Produktideen, etc. und das alles freiwillig (Dörner, 2010). Die gezielte Auslagerung von Unternehmensaktivitäten in eine (Web-)Community hat mittlerweile sogar einen eigenen Begriff bekommen: „Crowdsourcing" (Voß & Klemann, 2009, S. 153).

Der erhoffte positive Effekt der Social Media-Präsenz kann sich aber auch sehr schnell in das Gegenteil verkehren, wenn die Konzerne zu unvorbereitet ihre Online-Kampagnen starten, wie die jüngsten Beispiele von Nestlé, Procter & Gamble oder BP zeigen. Ihnen allen gelang es nicht, angemessen auf die Dynamiken im Netz zu reagieren, als sie plötzlich in einem schlechten Licht standen. So einfach, wie man Fan einer Marke oder eines Produkts werden kann, so schnell kann die Stimmung auch in das Gegenteil umschlagen und die Marke nachhaltig schädigen (Loewenfeld, 2006, S. 9).

Fall Nestlé:

Die Umweltschutzorganisation Greenpeace warf dem Konzern Nestlé im April 2010 vor, für sein Produkt Kitkat ein Pflanzenöl zu verwenden, für das Regenwälder abgeholzt und so die letzen Rückzugsgebiete der Orang Utans zerstört werden. In den Augen von Greenpeace wird Nestlé dadurch zum Affenmörder. Die Umweltschützer verbreiteten Anti-Nestlé Kampagnen auf nahezu allen medialen Kanälen wie Facebook, Twitter oder Youtube. Anstatt sich den Vorwürfen zu stellen oder in Kommunikation mit den Fans zu treten, wurden Beiträge gelöscht oder Personen aus der Fanliste entfernt, sehr zum Missfallen der Netzgemeinde, deren Protest gegen Nestlé sich stetig ausweitete. Erst als sich Nestlé den Vorwürfen stellte und in die Kommunikation mit den Nutzern trat, beruhigte sich die Lage, wobei die Marke nachhaltig geschädigt wurde (Hillenbrand, 2010; Dörner, 2010, Andresen & Bialek, 2010).

Fall Procter & Gamble:

Der Konzern Procter & Gamble brachte Anfang 2010 eine neue Auflage einer Pampers-Windel auf den Markt, die nach Meinung vieler Kunden Verätzungen und Ausschläge bei Kleinkindern verursache. Die Eltern machten ihrem Missmut in Blogs, Foren und sozialen Netzen Luft. Anstatt auf diesen Kanälen auf die Kunden zuzugehen und mit ihnen gemeinsam an Lösungen zu arbeiten, erklärte Procter & Gamble die Vorwürfe per Presseerklärung als falsch und stellte Youtube-Videos ein, die die Erfahrungen der Eltern als haltlos darstellten. Das war nicht nur eine unangemessene Reaktion (warum hat die Firma nicht das Gespräch mit den Betroffenen gesucht?), sondern auch noch das ungeeignete Medium für die Antwort. Wenn der Protest in Blogs, Foren und sozialen Netzen stattfindet, dann hätte der Konzern auch in diesen Medien reagieren müssen, da sich dort die protestierende Zielgruppe befand (Friedrich, 2010b).

Fall BP:

Der Fall BP ist etwas anders gelagert als die beiden vorherigen. Als Reaktion auf das Verhalten von BP nach dem Untergang der Bohrinsel Deepwater Horizon im April 2010 legte sich ein Unbekannter einen falschen Twitteraccount mit dem Namen BPGlobalPR zu und verbreitet seitdem sarkastische Kommentare, die viele für echt hielten und sich über das vermeitnliche Verhalten von BP beschwerten. Das Ausmaß wird deutlich, wenn man bedenkt, dass der falsche Twitterer im Mai 2010 40.000 Follower[5] hatte, im Gegensatz zu 5.000, die der offizielle Kanal, BP America, hatte. Dem Konzern war lange nicht klar, wie er gegen den falschen Twitterer vorgehen kann (Friedrich, 2010a).

Drei sehr große Konzerne, die alle innerhalb kürzester Zeit in Schwierigkeiten geraten sind, weil sie nicht mit den Besonderheiten der Social Networks klargekommen sind. Sie haben nicht beachtet, dass „Internetaktivitäten wie soziale Netze, Wikis oder Blogs [...] Gemeinschaften viel schneller entstehen lassen [können] und deren Wirkung und Reichweite deutlich erhöhen" (Kane, Fichmann,  Gallaugher & Glaser, 2010). Vor allem, wenn es dann seitens der Konzerne an proaktiver Öffentlichkeitsarbeit fehlt, die sich mit den Vorwürfen auseinandersetzt und  sie nicht versuchen in Interaktion mit der Netzgemeinde die Probleme, Unstimmigkeiten, etc. zu lösen, dann kann die negative Stimmung schnell zum Selbstläufer werden und sich wie ein Lauffeuer verbreiten.

Hier drängt sich natürlich die Frage auf, weshalb große Konzerne (Nestlé hat beispielsweise über 276.000 Mitarbeiter[6]) nicht angemessen auf Web-Krisen reagieren können, vor allem auch vor dem Hintergrund, dass dem Social Media Marketing bereits jetzt ein hoher bis sehr hoher Stellenwert unter Kommunikationsagenturen eingeräumt wird (GWA Frühjahrsmonitor, 2010, S. 29). Bei einer Studie, bei der 80 Geschäftsführer von Kommunikationsagenturen befragt wurden, gaben sogar 93% an, dass die Bedeutung von Social Media für die Marketingkommunikation zunehmen wird (GWA Frühjahrsmonitor, 2010, S. 30).

Um verstehen zu können, warum die beschriebenen Entwicklungen dergestalt stattfanden, muss man sich der Funktionsweise von sozialen Netzen und Communities bewusst werden.

3. Networks, Communities und Gruppen

Community und Network (sowie ihre deutschen Pendants Gemeinschaft und Netzwerk) sind Wörter, die mittlerweile zwar nahezu omnipräsent sind und schon fast inflationär gebraucht werden. Nur selten wird aber dargelegt, was unter ihnen zu verstehen ist.

Es gibt keine allgemein gültigen Definitionen für Community, soziales Netz und ihre virtuellen Pendants, da sie Gegenstand der verschiedensten Forschungsrichtungen wie Betriebswirtschaftlehre, Psychologie, Soziologie, Kommunikationswissenschaften oder Informatik sind (Fremuth & Tasch, 2002, S. 4f.).

Soziale Netze bestehen aus einer begrenzten Menge von Knoten (das können Personen oder Personengruppen sein) und Relationen (das sind die Verbindungen der Personen) zwischen den Knoten (Wilbers, 2004, S. 42ff.). Die Relationen beschreiben dabei die Interaktionen oder auch Beziehungen zwischen den Personen. So lässt sich über soziale Netzwerke darstellen, welche Person mit welcher anderen Person kommuniziert, wer wen kennt, wer mit wem verwandt ist, usw. (Koch & Richter, 2008, S. 72).

Soziale Netze lassen sich auch digital abbilden. So wird es für die Nutzer relativ einfach, Kontakte aufzunehmen oder aufrecht zu erhalten. Im Internet gibt es mittlerweile verschiedenste Social Networks zu den unterschiedlichsten Themengebieten, wobei die Grundfunktionalitäten Identitätsmanagement, Kontaktmanagement, Expertensuche sowie Unterstützung des Austauschs prinzipiell bei jedem vorhanden sind (Koch & Richter, 2008, S. 72f.).

Eine Community hingegen ist eine Gruppe mehrerer Personen, die freiwillig miteinander face-to-face interagieren, dabei gemeinsame Themen teilen und ein Gemeinschaftsgefühl entwickeln (Stocker & Tochtermann, 2008, S. 64). Durch die zunehmende Verbreitung der digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien der letzten Jahre hat sich die geographische Komponente der Gemeinschaft immer weiter in das Internet verlagert und dazu geführt, dass sich der Gemeinschaftsbegriff gewandelt hat und Virtuelle Communities entstanden sind (Rüdt, 2007, S. 39ff.). Das Internet und die damit verbundenen Kommunikationsmöglichkeiten eigenen sich sogar sehr gut für den Aufbau sozio-emotional relevanter Beziehungen (Hartmann, 2004, S. 682), weswegen Virtuelle Communities schneller entstehen können als nicht-virtuelle.

Kurz zusammengefasst ist eine Virtuelle Community eine Gruppe von Personen, die über digitale Medien interagieren und kommunizieren (Fremuth & Tasch, 2002, S. 5), wobei die Bedürfnisse nach Information, Interaktion sowie Gemeinschaft erfüllt werden, ohne dass eine physische Präsenz nötig ist (Leimeister & Krcmar, 2004, S. 5).

Im Alltag und auch in den Medien werden die Begriffe Virtuelle Community und Social Network fälschlicherweise oft synonym verwendet. Auch wenn sie eng zusammenhängen und miteinander verknüpft sind, ist eine synonyme Verwendung unzutreffend. „Bei sozialen Netzwerken kann es sich [...] um Gemeinschaften handeln. Wobei nicht jedes soziale Netzwerk eine Gemeinschaft ist" (Müller & Gronau, 2007, S. 2). Der Unterschied liegt im Grad der Verbindungen. Ein Netzwerk besteht eher aus schwachen (lockeren) Bindungen, ein Community hingegen aus starken (engen) Bindungen[7]. „Im Mittelpunkt des ‚social networking‘ stehen der Aufbau und die Pflege von Beziehungen, während in Virtuellen Communities das Herausbilden eines Gemeinschaftsgefühls zwischen den Mitgliedern selbst das zentrale Element darstellt" (Stocker & Tochtermann, 2008, S. 70). Das bedeutet, dass sich Communities in ihrer Außendarstellung als Einheit präsentieren, eine grafische Darstellung der Community-Mitglieder und ihren Verbindungen möglich ist sowie dass die Beziehungen von längerer Dauer und stabiler sind. Soziale Netzwerke sind in ihrer Größe unbegrenzt, verlangen weniger Aufwand zur Pflege und die Verbindungen sind leicht kündbar (Döring, 2003, S. 407 ff.). Communities können jedoch innerhalb von sozialen Netzen entstehen (Stocker & Tochtermann, 2008, S. 70). Wenn beispielsweise eine Facebook Gruppe zu einem bestimmten Thema gegründet wird, dann kann das eine Virtuelle Community innerhalb eines sozialen Netzwerkes werden.

In der aktuellen Diskussion über den Einfluss und die Möglichkeiten Virtueller Communities wird allerdings oft vergessen, dass eine Community eine Unterart der sozialen Gruppe ist (und eine Virtuelle Community demnach eine Virtuelle Gruppe). Eine Community ist eine Gruppe mit besonderem sozio-emotionalem Bezug zwischen den Mitgliedern (Döring, 2003, S. 492 f.). In einer Gruppe sind die Bindungen noch nicht so stark wie in Communities, sie sind nicht so stabil und sie können von kürzerer Dauer sein. Mittlerweile wird oft die Bezeichnung Community verwendet, obwohl eine Gruppe gemeint ist. Für die Alltagssprache ist das eher nebensächlich, wenn es aber um das angemessene Handeln und einen guten Umgang mit Communities geht, ist die Unterscheidung von großer Bedeutung.

Die Unterscheidung ist vor allem deshalb wichtig, da Netzwerke, Gruppen und Communities durch ihre Unterschiedlichkeit verschieden behandelt werden müssen - sowohl wenn man sie für seine Zwecke nutzen möchte, als auch wenn man sich dort rechtfertigen muss. So ist es beispielsweise schwer, sich als Unternehmen effektiv in einem Netzwerk zu platzieren, da es offen und unstrukturiert ist. Schafft man es hingegen, eine Community aufzubauen, so sind die Mitglieder (nahezu) eindeutig zu identifizieren und an bestimmten Themen längerfristig interessiert, was es einfacher macht, gezielt mit ihnen in Kontakt zu treten.

Kurz zusammengefasst lässt sich festhalten, dass sich in einer unbegrenzten Menge an sozialen Netzwerken Leute zu Gruppen zusammenfinden können und aus diesen Gruppen Communities entstehen können, wenn die Mitglieder starke Bindungen entwickeln und die Community sich stabil und langfristig etabliert.

4. Gruppendynamiken im Internet

Nachdem geklärt wurde, was Communities, Gruppen und soziale Netzwerke sind, liegt der Fokus nun auf der Betrachtung, wie diese sich im Internet bilden und wie es zu den vorhin geschilderten medialen Protestmaßnahmen gegen die Konzerne kommen konnte.

Wie bereits erwähnt entstehen Virtuelle Gruppen aus digitalen sozialen Netzen heraus, sobald sie ein gemeinsames Thema finden, dass sie verbindet. Wie zuvor dargestellt, bilden sich Gruppen im Internet leichter und schneller, da „es die verschiedenen Dienste und Anwendungen im Internet [...] [ermöglichen], dass Einzelpersonen, die vorher nicht miteinander in Kontakt standen, sich zu sozialen Gruppen zusammenschließen" (Döring, 2003, S. 520). Es muss nur jemand die Gruppenbildung anstoßen und Multiplikatoren im Netz für sein Vorhaben gewinnen, dann kann die Gruppe automatisch durch ihre Aktivitäten wachsen.

Sobald diese Entwicklung angelaufen ist, greifen verschiedene kommunikations- und sozialpsychologische Prozesse, die den obigen Konzernen zum Verhängnis wurden und daher an dieser Stelle kurz skizziert werden sollen.

Ein wichtiger Punkt ist die Geschwindigkeit, mit der im Internet kommuniziert werden kann. Sowohl über synchrone wie auch asynchrone Kommunikationsmittel kann in Echtzeit mit vielen Personen gleichzeitig kommuniziert werden. Dazu kommt, dass durch das Fehlen bestimmter Kommunikationskanäle - im Internet fehlt oft der visuelle Kanal - und der fehlenden Personifizierung Menschen leichter dazu neigen, Hemmungen abzubauen. Der enthemmende Effekt kann zwar Offenheit und Ehrlichkeit begünstigen, aber im Konfliktfall verstärkt er Feindlichkeiten (Hartmann, 2004, S. 679).

Im Internet sind die Leute also ungehemmter. Hinzu kommt noch ein gruppendynamischer Effekt, denn „ist eine soziale bzw. kollektive Identität salient, so nehmen sich die Personen in erster Linie als Mitglieder einer bestimmten Gruppe [z.B. die der KitKat Gegner, Anm. des Autors] wahr" (Döring, 2003, S. 174). Gruppen streben nach Konformität (Gollwitzer & Schmidt, 2009, S. 137 ff.), die dann zu Konformitätsdruck führt, was bedeutet, dass sich Gruppen schnell auf Entscheidungen festlegen (z.B. Nestlé tötet Orang Utans) ohne diese genauer zu reflektieren (Gollwitzer & Schmidt, 2009, S. 197). Verstärkt wird dieser Effekt dadurch, dass sich die Mitglieder spontan zusammengefundener Internetgruppen untereinander persönlich oft nicht kennen und durch die aktivierte Gruppenidentität eine Scheinhomogenität entsteht (Döring, 2003, S. 174). „Ein spezifischer Aspekt von Homogenität ist, dass eine Gruppe ein überstarkes Wir-Gefühl sowie Gefühle der Unbesiegbarkeit entwickelt" (Gollwitzer & Schmidt, 2009, S. 198). So fällt es den Gruppenmitgliedern schwer, eigene Meinungen und Entscheidungen zu bilden, die eventuell der Gruppenmeinung widersprechen, da jeder für sich bestrebt ist, sich konsistent zur Gruppenidentität zu verhalten (Gollwitzer & Schmidt, 2009, S. 9 ff. und 65 ff.). Das kann so weit führen, dass sich Personen anders verhalten, als es ihrer Einstellung entspricht. Zum Beispiel vertreten sie nach außen andere Meinungen, als die Personen eigentlich haben. „Dabei wird die persönliche Identität zugusten der sozialen Identität entpersonalisiert. Die Mitglieder der Gruppe agieren nicht mehr gemäß ihrer individuellen Besonderheiten sondern als Prototypen der Gruppen" (Loewenfeld, 2005, S. 58).

So schnell wie sich die Gruppen zusammenfinden, so schnell können sie sich auch wieder auflösen, wenn die Ziele nicht erreicht werden, die Attraktivität des Engagements innerhalb der Gruppe schwindet oder natürlich die Aufgaben erledigt sind (Döring, 2003, S. 495 f.).

Exemplarisch sollen diese Erkenntnisse nun auf eines der oberen Fallbeispiele, den Fall Nestlé, angewandt werden. Greenpeace hat die Gruppenbildung mit einer Aussage angestoßen, von der nicht genau bekannt war, ob sie stimmt. Die Aktivisten schafften es aber, aus den sozialen Netzen, in denen sie ihre Vorwürfe platzierten, Leute zu generieren, die ihre Meinung vertraten. Wer sich selbst als Tier- oder Umweltschützer identifizierte, schloss sich dem Protest an. Als Mitglieder der Gruppe standen sie schon unter dem Konformitätsdruck und mussten die Meinung weiterhin vertreten, sogar als schon von Konzernseite die ersten Belege gegen die These geliefert wurden. Als das Thema langsam von der Diskussionsagenda verschwand und Nestlé immer mehr Belege für seine Position liefern konnte, löste sich die Gruppe langsam wieder auf (Andresen & Bialek, 2010).

Nestlé machte dabei den Fehler, anfangs nicht auf die Vorwürfe einzugehen, was die Gruppenmeinung noch mehr verstärkte. Auch das Löschen kritischer Beiträge wurde so uminterpretiert, dass das Unternehmen etwas zu verbergen habe, da sonst eine Inkonsistenz in der Gruppenmeinung entstanden wäre. Erst als der Konzern versuchte durch sinnvolle Argumente seinen Standpunkt zu untermauern und die Vorwürfe systematisch entkräftete, änderten immer mehr Mitglieder der Protestgruppe ihre Meinung und verließen die Gruppe.

Für den Konzern wäre es demnach sicherlich besser gewesen, wenn er sich einerseits als gleichberechtigter Kommunikationspartner gegeben hätte und mit den Gegnern wie zwischen Menschen und nicht wie zwischen Unternehmen kommuniziert hätte (Dörner, 2010) sowie andererseits  gleich versucht hätte, die Einstellungen der Protestaktivisten durch Überzeugung (Gollwitzer & Schmidt, 2009, S. 157) zu ändern. Hätte der Konzern gleich nach Bekanntwerden der Vorwürfe durch schlüssige und belegbare Gegenargumente reagiert (Andresen & Bialek, 2010), dann hätte er die Gruppenbildung vermutlich in dieser Dimension verhindern können, da er den Leuten eine Gegenmeinung präsentiert hätte. In Folge dessen hätten die Nutzer zwischen zwei Meinung abwägen müssen und viele wären wahrscheinlich nicht der Protestgruppe beigetreten und damit in die Spirale der Gruppendynamik geraten.

Optimal wäre es natürlich für einen Konzern, Netznutzer schon vorher in einer Gruppe, oder noch besser einer Community, zu organisieren, denn dann wären die Netznutzer im Sinne der Gruppenkonformität nicht so leicht von negativen externen Meinungen zu überzeugen. Vor allem wenn es gelingt, eine Community aufzubauen, schafft das Unternehmen eine starke Bindung zwischen sich und den Mitgliedern sowie zwischen den Mitgliedern untereinander. Dadurch würden die Mitglieder auch im Krisenfall erst einmal zum Konzern stehen, da er dann in erster Linie ein unpersönlicher Konzern wäre, sondern Teil ihrer Community, zu dem sie eine enge Bindung aufgebaut haben und dessen Meinung sie vertreten wollen, denn „[d]ie Bindung von Mitgliedern an ein Netzwerk bzw. eine Community ist wesentlich höher als die von Kunden an ein bestimmtes Produkt oder eine Marke" (Brunold, Merz & Wagner, 2000, S. 56).

5. Fazit und Ausblick

Ein Grund für das suboptimale Verhalten der Konzerne in Krisensituationen scheint darin zu liegen, dass der Bereich der Virtuellen Gemeinschaften und deren Erfolgsfaktoren zwar theoretisch gut beschrieben ist, ihm aber eine empirische Absicherung fehlt (Leimeister, Sidiras & Krcmar, 2003, S.1) und viele der Erkenntnisse noch nicht bis in die Unternehmen vorgedrungen sind. Rüdt (2007) sieht hier sogar eine Forschungslücke: „Die Schnittmenge der Themenkreise Marketing, Virtual Communities und Netzwerkanalyse beschreibt eine Forschungslücke, obschon die Relevanz sozialer Netzwerke als Marketingkanal in der Praxis bereits erkannt wurde" (S. 24).

Wenn die Marketing- und PR-Verantwortlichen der Unternehmen nicht wissen, warum wie wann welche Art von Informationen einen positiven Effekt auslösen, wie Gruppenbildung sowie Gruppenprozesse im Internet funktionieren und warum wer wann wie welche Art von Informationen weitergibt, dann wissen sie auch nicht, wie sie in Krisensituationen reagieren müssen oder wie sie solche von vornherein vermeiden können. Ihnen fehlen das Wissen, beziehungsweise gesicherte Erkenntnisse, über den Zusammenhang von Vernetzung, Dynamik und Kommunikation in sozialen Netzen und Communities - und damit auch das Wissen, wie sie ihr Marketing, ihre Öffentlichkeitsarbeit und den digitalen Dialog mit ihren Kunden aufbauen müssen. Um diese Lücke zu schließen, bedarf es weiterer Forschung[8], insbesondere vor dem Hintergrund, dass „die wachsende, auch zeitsouveräne Verfügbarkeit von Information und Unterhaltung auf verschiedenen Verbreitungsplattformen [...] weitergehende und sehr unterschiedliche mediale Handlungsmuster [ermöglicht]" (Oehmichen & Schröter, 2007, S. 406). Kooperationen mit Forschungseinrichtungen wie Universitäten oder eigenständige Forschung auf den Gebieten Social Networks und Communities wären Ansatzpunkte, um eine breitere Wissensbasis zu schaffen.

Die grundlegende Basis für Erfolge in digitalen Networks und Communities ist ein tiefgehendes Verständnis für die Beweggründe, Mechanismen und Dynamiken des Nutzungs- und Nutzerverhaltens. Deswegen werden dringend empirisch abgesicherte Erkenntnisse benötigt, die Aussagen über die Netz-Verhaltensweisen verschiedener Zielgruppen erlauben, um auf Basis derer Marketing-, PR- und Nutzungskonzepte entwickeln und evaluieren zu können. Mit diesem Wissen können Unternehmen in Zukunft Marketing- und PR-GAUs, wie die anfangs dargestellten, vermeiden oder zumindest angemessen darauf reagieren. Die Konzerne sollten nie vergessen, dass „[d]ie höchste Stufe der Beziehungen zwischen den Kunden und Anbietern [...] die Community [ist]" (Brunold, Merz & Wagner, 2000, S. 93).

 


[1] Die Begriffe „Netz" und „Netzwerk" werden hier synonym verwendet.

[2] Auf den Unterschied zwischen Communities und sozialen Netzen gehe ich in Kapitel 3 ein.

[3] http://www.facebook.com/home.php?#!/Starbucks?v=info&ref=ts (02.08.2010)

[4] http://www.facebook.com/home.php?#!/cocacola?v=info&ref=ts&ajaxpipe=1&__a=23 (02.08.2010)

[5] Als Follower bezeichnet man bei Twitter die Leser, die die Informationen dieses Twittereres abonniert haben.

[6] Historisches Lexikon der Schweiz: http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D41776.php (02.08.2010)

[7] Zur Definition von schwachen und starken Beziehungen siehe Döring (2003, S. 407 f.)

[8] Vgl. hierzu auch das Interview von Michael Schröder, Präsident des Markting Clubs Berlin, im Interview mit Spiegel Online. URL: http://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/0,1518,657867,00.html (02.08.2010)


Literatur

Steidle, M. (2010). Communities vs. Unternehmen: Wenn sich die Netzgemeinde gegen einen richtet. w.e.b.Square, 04/2010. URL: http://websquare.imb-uni-augsburg.de/2010-04/9.

 


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